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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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die gemischte Sauna aufsuchen.
    Ein Dröhnen war zu hören. Die Turbinen liefen an. Er hielt das Handy an sein Ohr und drehte sich dem Fenster zu, damit die Flugbegleiterin keinen Verdacht schöpfte. Den Kopf auf dem Mantel, die Augen geschlossen, tat er, als ob er schlief. Auch ohne die Turbinen war es in seinen Ohren laut. Die Angst rauschte. Nicht nur die Angst, er könnte den Anruf verpassen.
    Aus den Augenwinkeln verfolgte er, wie die Flugbegleiterin zu der Stimme vom Band die Sicherheitsvorkehrungen erläuterte. Niemand beachtete sie. Ihre Hinweise liefen ins Leere. Dennoch bemühte sie sich zu lächeln. Ekelhaft wie ihre braunen Beine.
    Er zog den Gurt fester und schloss erneut die Augen. Das Dröhnen in seinen Ohren wurde stärker. Nicht, dass er unter Flugangst litt, aber es wurde Zeit, dass die Maschine endlich abhob und der Moment vorbeiging, in dem er stets das Gefühl hatte, dass der Pilot die Kontrolle über das Flugzeug verlor.
    Das Flugzeug erreichte die Startbahn. Das Geräusch der Turbinen ebbte kurz ab, um dann erst richtig in Schwung zu kommen. Genauso hörte es sich vermutlich im Innern eines Tornados an. Der Lärmpegel stieg. Er hatte das Gefühl, dass seine Ohren in das Innere des Kopfes krochen, um dort Schutz zu suchen. Der Sog der Geschwindigkeit drückte Jost in den Sitz zurück. Er hielt das Handy fest umklammert.
    Beim Abheben gewann das Dröhnen noch mehr an Lautstärke, als hätte sich die Verkleidung des Flugzeuges in Luft aufgelöst. Für einen Moment dachte Jost, er würde aus dem Sitz geschleudert. Seine Hände klammerten sich an die Lehne.
    Was, wenn der Druck von außen so stark wurde, dass die Fensterscheiben herausflogen, wie er es in Filmen gesehen hatte? Wenn die Sitze sich aus ihren Verankerungen lösten? Das Cockpit abriss und die Sitze in der Geschwindigkeit des Flugzeugs nach vorne rasten, um aus dem übrig gebliebenen Rumpf der Maschine zu stürzen?
    Sein Nachbar, ein übergewichtiger Geschäftsmann, las in einer polnischen Zeitung. Er blickte nicht einmal auf. Wie abgestumpft musste der dem Leben gegenüber sein, dass er diese massive Beeinträchtigung, dieses Ausgeliefertsein an die Technik einfach ignorierte?
    Der Gong ertönte, und über ihm erschien der Hinweis, dass er sich abschnallen konnte. Die Motoren beruhigten sich. Das Flugzeug hatte seine Bahn gefunden. Die beiden Stewardessen begannen, Getränke auszuschenken.
    Beim Anblick des Getränkewagens beruhigte sich sein Blutdruck. Die Fugbegleiterin beugte sich zu ihm hinunter.
    »Whisky!«, bestellte Jost.
    Ihre weißen Zähne strahlten, als hätte sie ihr Gebiss im Lotto gewonnen, während sie den Plastikbecher mit einem Getränk vollgoss, das mit Sicherheit kein Whisky war, sondern etwas anderes. Egal, Hauptsache Alkohol, um die Angst zu betäuben. Er trank den Becher in einem Zug leer.
    Dann lehnte er sich zurück und schaute aus dem Fenster. Unter ihm lag zu seiner Erleichterung eine dicke Wolkendecke. Beim Fliegen legte er keinen Wert auf Aussicht.
    Umständlich holte er seine Unterlagen hervor. Der polnische Geschäftsmann neben ihm hatte die Arme auf seiner Seite. Wenn er sich bückte, stieß er an die Zeitung. Er versuchte, es zu ignorieren, obwohl er spürte, wie die Aggression in ihm anschwoll.
    Alles hing davon ab, ob sich der Entführer meldete und ihm das geforderte Lebenszeichen des Jungen gab.
    Warum war er sicher, dass der Junge lebte? Der Mann hatte Henriette Winkler getötet. Aber Henriette Winkler hatte Schuld auf sich geladen. Noch war ihm nicht wirklich klar, welche Schuld, aber es hing mit dem Krieg zusammen, mit der Stadt, in die er fuhr.
    Aber der Junge?
    »Gehen Sie über die Grenze?«, hatte der Entführer gefragt. Diese Frage hatte eine Bedeutung. Sie war dessen Credo. Als hätte er eine Entscheidung gefällt und forderte ihn heraus, sich mit ihm zu messen. Er, Jost, hatte die Herausforderung angenommen. Er wollte die Frage beantworten, wie weit er ging, was er bereit war zu tun, welche Grenzen er fähig war zu überschreiten.
    Um einen Menschen zu retten, fügte er in Gedanken hinzu, um sich selbst zu beruhigen.
    Er hob den Plastikbecher hoch. Die Blondine füllte nach, und wieder trank er, ohne abzusetzen. Es war ein Wahnsinnsgefühl, eine Welt zu betreten, in der andere Spielregeln herrschten! Eine Welt, in der man nach seinen eigenen Gesetzen handelte, in der die herkömmlichen Fragen nach Moral keine Rolle spielten. Als er für einen Moment Hans Frank verstehen konnte, erschrak er

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