Wintermörder - Roman
verstehen.
Oliver hatte alle betrogen. Die Versicherung, sie, die Arbeiter. Hatte er damit alles ausgelöst? Hatte er so die Dinge ins Rollen gebracht? Aus reiner Habgier? Es war so einfach, ihrer Familie zu schaden. Im Krieg machte man sich schuldig, allein dadurch, dass man in diese Zeit hineingeboren worden war. Es gab nur wenige, die unversehrt aus einer solchen Zeit hervorgingen. Oder etwa nicht? Denise merkte, wie sie plötzlich nach Entschuldigungen für ihre Großeltern suchte, was sie verwirrte. Im Gegensatz zu ihrer Großmutter hatte sie ihren Großvater geliebt. Er hatte so viel Charme, war ein Frauenliebling gewesen, trotz des Verlustes seines Armes. Ja, sie hatte ihn geliebt und immer gedacht, dass er ihre Großmutter nur geheiratet hatte, weil sie als einzige Tochter eines Berliner Unternehmers ein großes Vermögen besaß.
»Warum sind Sie gekommen?«, fragte sie.
»Weil ich es versprochen habe.« Er stockte einen Moment und fuhr dann fort: »Außerdem, ich bin selbst Architekt, arbeite jedoch seit zwei Jahren in einem Reisebüro. Wie gesagt. Wir haben hier viele ausländische Firmen, die die großen Bauprojekte abwickeln. Ich dachte, Sie könnten mir zu einem Job verhelfen.«
Denise schwieg. Hatte sie sich in ihm getäuscht? War er auch nur jemand, der seinen eigenen Vorteil suchte? Andererseits, konnte sie ihm das übel nehmen? Er erwartete Hilfe. Was hatte sie, das sie ihm geben könnte? Nichts, sie hatte nichts mehr.
»Ich kann nicht einmal mir selbst helfen«, sagte sie bitter, hob die Tasse und nahm einen Schluck. Der Kaffee war kalt.
»Was wollen Sie hier in Krakau?«, fragte er nach einigen Minuten des Schweigens.
Denise konnte nicht antworten. Sollte sie einem Fremden die Gefühle zeigen, die in ihr tobten?
Schuld, Misstrauen, Angst
. Dennoch begann sie stockend zu erzählen »Mein Sohn. Er ist …« Sie bekam keine Luft. Den Wahnsinn auszusprechen war schlimmer, als ihn schweigend zu ertragen. »Er ist entführt worden.« Als ihr die Tränen kamen, drückte sie in dem Bemühen, sie zurückzuhalten, eine Hand auf den Mund.
Draußen am Fenster fuhr ein Lastwagen in schnellem Tempo die Straße entlang. Schneematsch spritzte hoch. Eine Frau im Pelzmantel sprang zur Seite und wechselte anschließend die Straßenseite.
»Entführt?«, fragte er entsetzt.
Sie nickte. »Es ist drei Tage her. Er kam nicht von der Schule nach Hause.«
»Was machen Sie dann hier? In Krakau? In Polen?«
Denise wusste, dass sie ein hohes Risiko eingegangen war, indem sie hierhergefahren war. Sie konnte nicht wirklich erklären, was sie angetrieben hatte, denn es war etwas völlig Irrationales. Dennoch, der Mann vor ihr flößte ihr Vertrauen ein, obwohl er ein völlig Fremder war. Er kannte ihre Familie nicht, er hatte mit der Sache nichts zu tun, er war gekommen, weil er sich einen Job erhoffte. Vielleicht würde er deshalb besser verstehen, dass sie das Recht hatte, auf ihre Weise zu handeln.
Denise erzählte ihm die ganze Geschichte.
Als sie fertig war, schwiegen beide, bis Kadow fragte: »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Erleichtert antwortete sie: »Erzählen Sie Ihrem Vater alles und fragten Sie ihn nach den Einzelheiten zum Brand. Ich möchte auch wissen, was andere Arbeiter beobachtet haben, die mit ihm dort zusammengearbeitet haben.«
Er nickte. »Ich werde es versuchen. Wenn Sie mir Ihre Handynummer geben, kann ich Sie erreichen.«
Sie zögerte.
Sie kannte ihn nicht, und sein Vater stand auf der Liste, der Liste von Arbeitern, die einen Grund haben könnten, sich an ihrer Familie zu rächen.
»Sie können mir vertrauen.« Kadow reichte ihr die Hand.
Sie ergriff sie. In erster Linie musste sie an ihr eigenes Gefühl glauben. Es war das Einzige, was ihr jetzt Sicherheit geben konnte. Es war das Einzige, was sie noch hatte, und sie konnte nur hoffen, dass es kein Fehler war.
28
Als Myriam Henri beim Frühstück ihre Entscheidung mitteilte, widersprach er nicht, und sie konnte ihn dazu überreden, Ron Fischer nichts zu erzählen, da sie befürchtete, dass dieser ihre Entscheidung an die große Glocke hängen würde. Henris Solidarität erschreckte sie. Sie ging damit eine Verpflichtung ein, denn Ron war nicht nur sein bester Freund, sondern im Dienstrang eine Stufe höher.
Sie machten sich zusammen auf den Weg. Als sie am Friedhof ankamen, war der Himmel von dunklen Wolken verhangen, als hätte Christo persönlich ihn verhüllt. Sie bewegten sich nicht, sondern hingen drohend über den Gräbern.
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