Wintermörder - Roman
Myriam war nicht abergläubisch, nicht religiös, nicht einmal spirituell veranlagt. Doch auch sie wusste: An einem Tag, an dem sie sich unerlaubt Zugang zu einem Grab verschaffte, konnte die Sonne nicht scheinen. So viel Vergebung gab es nicht. Sie wünschte nur, sie könnte auch hier auf dem Friedhof in der Ausübung ihres Amtes ihre schwarze Robe tragen. Es würde ihr helfen, die Zweifel zu überwinden. Wie die Uniform einem Soldaten hilft, die Waffe abzufeuern, die man ihm in die Hand drückte.
Das Bestattungsunternehmen verspätete sich um zwanzig Minuten, was die Stimmung am Grab auf den Tiefpunkt sinken ließ. Außer Henri hatte sie Henning Veit als Zeugen dazugebeten, der auch keine Fragen stellte, sondern lediglich bemerkte: »Ich hatte mich doch schon von der alten Dame verabschiedet.«
Myriam war ihm dankbar für seinen Humor, der der Sache die Schwere nahm.
Als endlich der Bestatter, Torsten Frey, ein dreißigjähriger dürrer Mann in schwarzem Parka und grauer Mütze, eintraf, wollte er zunächst die Genehmigung sehen.
»Wer weiß, ob das hier mit rechten Dingen zugeht«, murmelte er.
»Geht es«, sagte Myriam betont hochmütig und zeigte ihm ihre eigene Unterschrift. Sie hatte weder mit Hillmer noch dem Richter Rücksprache genommen. Sie hatte keine juristische Entscheidung für eine Exhumierung gefunden, um Sargbeigaben zu beschlagnahmen. Was sie hier machte, war Amtsanmaßung. Es war schlimmer als Amtsanmaßung. Es war Grabschändung, und sie handelte gegen den Willen der Angehörigen. Nur Grabräuber raubten und schändeten die Toten und betrogen sie um das Letzte, was ihnen gehörte.
Der Bestatter gab ihr den Zettel zurück, und mit einem Kopfnicken forderte er seine beiden Angestellten auf anzufangen. Vorsichtig räumten diese die Kränze und Blumengestecke zur Seite, die bereits völlig im Schnee aufgeweicht waren.
»Die Blumen«, erklärte Frey, »sind das Schwierigste. Schließlich sollen die Angehörigen wieder ein ordentliches Grab vorfinden.« Er steckte einen Spaten zwischen die Kränze. »Aber wir haben Glück, denn die frische Erde ist noch nicht gefroren. Wonach suchen Sie noch einmal?«
»Nach einer Kiste im Sarg«, antwortete Myriam. »Fangen Sie endlich an!«
»Ach ja, ich erinnere mich. Wir haben sie der alten Dame an die Füße gelegt. Da war noch Platz. Sie war ja nicht besonders groß. Schätze circa ein Meter und sechzig.«
Die beiden Männer stießen ihre Spaten in die Graberde. Aus ihrem Mund kamen vor Anstrengung weiße Atemwolken, während ihr Chef sich eine Zigarette nach der anderen anzündete.
Dr. Veit stand mit verschränkten Armen daneben und unterhielt sich leise mit Henri. Wenn sie von einem Fuß auf den anderen traten, um sich Wärme zu verschaffen, knirschte der Schnee. Niemand sagte etwas.
Sie hatte die Absicht gehabt, gestern Abend Henri anzurufen, um ihm von ihrer Entscheidung zu erzählen, doch der Überfall hatte alles verändert. Noch immer schmerzte ihr Knie, und ihre Lippe war geschwollen. Sie hatte in seiner Wohnung übernachtet, weil sie nicht alleine bleiben wollte, aus Angst, der Opelfahrer könnte zurückkommen. Den großen massigen Körper neben sich zu spüren, hatte ihr ein Gefühl der Sicherheit gegeben. Ein Sicherheitsgefühl, das bisher selbstverständlich zu ihrem Leben gehört hatte. Immer wieder war in der Nacht die Angst in ihr hochgekommen. Immer wenn sie glaubte, sich das Ganze eingebildet zu haben, hatten ihre Hände nach den Haaren gegriffen, die nicht mehr da waren. Sie versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was sie von dem Mann wahrgenommen hatte. Doch er blieb nur ein Schatten. Bis auf seine Stimme. Diese Stimme hatte sie die ganze Nacht gehört.
Myriams Nägel krallten sich in ihre Hände. Wenn sie nur wüsste, ob es richtig war, was sie hier taten. Was war, wenn die Kassette nicht die Briefe enthielt, nach denen sie suchte? Dann hätte sie sich nicht nur lächerlich gemacht. Sie würde sich als inkompetent erweisen.
Doch jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Das halbe Grab war bereits ausgehoben. Am Weg türmte sich die frische Erde und wurde nach und nach mit einer weißen Schneeschicht bedeckt.
Ein dumpfer Schlag ertönte. Sie waren am Sarg angekommen.
»Stopp«, der Bestatter ging in die Knie, nahm die Schaufel und drehte sie um. Mit dem Griff klopfte er vorsichtig die Ausmaße des Sarges ab. »Hier ist das Ende«, sagte er. »Wir tragen die Erde hier seitlich ab, damit jemand hinuntersteigen kann, um den Sarg zu
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