Wintermörder - Roman
die man ins Grab mitnimmt, bedeuten entweder einen großen Traum oder ein Verbrechen.«
»Oder beides«, sagte Henri. »Machen wir weiter.« Er nahm wieder das Diktiergerät in die Hand. »Die Stadtpläne werden fotografiert.«
Myriam öffnete den großen grauen Umschlag und zog mehrere Blätter heraus, die alt und modrig rochen. Sie stinken nach Vergangenheit und sind so zerbrechlich wie die Wahrheit, dachte sie.
»Ist das Polnisch?«, fragte sie mit Blick auf den Text.
»Ich denke schon«, antwortete Henri. »Es liest sich zumindest so, als ob es sich um eine slawische Sprache handelt.«
Henri wollte ihr die Blätter aus der Hand nehmen, doch sie sagte: »Nein, lass. Etwas ist damit, ich weiß nur nicht was. Als hätte ich es schon einmal gesehen.«
Ihr Finger fuhr die Zeilen entlang. Sie verstand den Text nicht. Es waren die Buchstaben, die ihren Blick anzogen, die ihr vertraut vorkamen.
»Wir müssen das George zeigen«, sagte sie. »Wenn ich etwas davon verstanden habe, was er uns erzählt hat, dann könnte es sich um dieselbe Schreibmaschine handeln, mit der das Zitat geschrieben wurde. Auch das Papier ist ähnlich. Findest du nicht?«
Henri nahm eines der Blätter in die Hände. »Ich weiß nicht.«
Myriam reichte es dem Fotografen. »Hiermit müssen Sie Wunder vollbringen.«
»Dafür bin ich schließlich da«, antwortete er.
Übrig geblieben war jetzt nur noch der kleine graue Umschlag. Langsam öffnete Myriam das Siegel. Waren es die Briefe, von denen Frau Hirschbach erzählt hatte? Würden sie etwas über den Mann erzählen, der Henriette Winkler getötet und Frederik entführt hatte?
Der Umschlag enthielt zwei Blätter. Sie betrachtete sie lange, las den Text immer wieder.
»Wenigstens das«, sagte sie schließlich und reichte es Henri.
Nach kurzem Blick begann er zu sprechen: »Der graue Umschlag DIN A5 enthält eine Geburtsurkunde für Karol Fuchs, geboren am 23. Februar 1945 im Durchgangslager Kelsterbach. Mutter Sophia Fuchs. Vater unbekannt. Bei dem zweiten Blatt handelt es sich um eine Sterbeurkunde, ausgestellt auf dasselbe Kind, Karol Fuchs, gestorben am 1. März 1945.«
»Sophia Fuchs hat tatsächlich ein Kind geboren«, sagte Myriam. »Aber es ist im Lager gestorben. Warum sollte Henriette Winkler nach einem toten Kind suchen?«
Henri zuckte mit den Schultern.
»Denise hat Recht«, fuhr Myriam mit ihren Überlegungen fort. »Alle Spuren führen nach Krakau.«
»Aber Matecki kann keine Frau unter diesem Namen finden«, wandte Henri ein.
»Vielleicht hat sie geheiratet und trägt einen anderen Namen!«
»Auch das habe ich bereits mit ihm besprochen. Wenn es eine Frau unter diesem Namen in Krakau oder Polen gibt oder gegeben hat, dann wird er sie finden.«
Er übergab die beiden Urkunden Katja Weiss. »Das war es«, sagte er.
»Und keine Briefe, kein Hinweis auf den Entführer. Wir haben keine Spur gefunden, die uns zu Frederik führen könnte. Wie soll ich das Hillmer erklären?«
»Am besten versuchst du es erst gar nicht.«
Myriam verließ die Leichenhalle. Was sie befürchtet hatte, war eingetreten. Der Erfolg, mit dem sie ihre Entscheidung hätte rechtfertigen können, war ausgeblieben.
Was sie gefunden hatten, war keine Erklärung, es waren neue Rätsel.
29
Udo Jost war viel zu früh am Flughafen gewesen und hatte mehr als eine Stunde wartend am Flugsteig A 32 zwischen Geschäftsmännern und dem umfangreichen Handgepäck zweier polnischer Familien gesessen. Voller Unruhe ließ er das Handy nicht aus den Augen, in der Hoffnung, der Entführer würde sich erneut melden.
Mit Tobler hatte er verabredet, heute Abend einen Bericht vom Wawel zu senden. Dafür hatte der Redaktionsleiter bereits ein polnisches Fernsehteam engagiert.
Die fünfzigtausend Euro trug er in einer Geldtasche unter seinem Hemd. Das Nylon schabte unangenehm an seiner Haut. Ansonsten spürte er die Erregung wie schon lange nicht mehr. Unaufhörlich rieb er die Fingerspitzen aneinander. Sein Rücken war nass vom Schweiß der Aufregung, dennoch war ihm kalt.
»Bitte das Handy abschalten.« Die Flugbegleiterin hatte blond gefärbte Haare und war geschminkt wie eine Puppe, die nur ein aufgemaltes Gesicht besitzt. Alles an ihr war künstlich, sogar der Geruch. Das einzig Attraktive hätten die Beine sein können, hätten sie nicht in diesen hautfarbenen Feinstrumpfhosen wie ein künstlicher Darm auf ihn gewirkt. Dennoch kam sein Bedürfnis nach Nacktheit wieder hoch. Vielleicht sollte er wieder einmal
Weitere Kostenlose Bücher