Wintermörder - Roman
öffnen und die Kiste herauszuholen.«
Die Männer schaufelten weiter, bis Frey sagte: »Es reicht.«
Die beiden Männer brachen die Arbeit ab und stiegen aus dem Loch. Oben stießen sie mit einem kräftigen Ruck die Schaufeln in den kleinen Hügel aus dunkler Graberde und griffen zu ihren Zigaretten.
»Wer öffnet den Sarg?«, fragte Frey.
Niemand meldete sich. Alle standen herum und starrten hinunter in das Loch, wo der Schnee langsam den Sarg weiß machte.
Fünf Gesichter starrten Myriam an. Sie hatte gehofft, Henning Veit würde in das Grab steigen. Doch er schüttelte energisch den Kopf und hob abwehrend die Hände. So weit ging seine Solidarität nicht. Ihr verzweifelter Blick fiel auf Henri. Sie könnte ihn bitten, und er würde es für sie tun. Aber es wäre nicht fair. Sie war allein verantwortlich für ihre Entscheidung. Und außerdem wäre sie ihm damit verpflichtet. Er könnte sich Hoffnungen machen, dass ihre Beziehung — die keine war — tiefer gehen würde.
Sie war wahnsinnig, ja, und ihre Pflichtauffassung sprengte diesmal jeden Rahmen. Sie versuchte sich einzureden, dass sie nichts Ungesetzliches tat. Dort unten, das war ein rechtsfreier Raum, oder nicht?
Sie starrte hinunter. Würde der Sargdeckel knarren? Würde er sich überhaupt öffnen lassen? Hatte Henriette Winkler die Augen geschlossen, oder waren sie offen? Hatte man ihre Hände zum Gebet gefaltet? Welche Kleider trug sie? Sie erinnerte sich an die scheintote Frau, die plötzlich den Kopf gehoben hatte. Fingernägel, Haare, die nach dem Tod weiterwuchsen, Haut, die sich ablöste, verkrümmte Gliedmaßen, ausgefallene Zähne. Und wie war das mit den Würmern? Sie riss sich zusammen.
Nach einer Nacht unter der Erde hatte sich Henriette Winkler mit Sicherheit noch nicht aufgelöst.
»Ich mache es«, sagte Myriam.
Sie trat an den Rand des Grabes. Frische Erde rieselte hinunter und schlug auf dem Sarg auf, der hier und da mit Blumen bedeckt war, bereits vergammelten Rosen, die wie angeschwemmter brauner Seetang aussahen.
»Nein.« Henri hielt sie am Arm zurück, doch Myriam schüttelte den Kopf. »Ich trage die alleinige Verantwortung.«
Sie setzte sich an den Rand des Grabes. Henning Veit kam ihr zu Hilfe. Sie klammerte sich an seine Hand und rutschte langsam nach unten. Der Schmerz im Knie und die Kälte trieben ihr die Tränen in die Augen. So ein Grab konnte einstürzen und über ihr zusammenkrachen. Sie unter sich begraben. Sie konnte ersticken. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Es würde sie den Kopf kosten.
»Halt«, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich.
Verwirrt blickte sie nach oben und erkannte Carl Winkler. In Jeans und der dunkelgrauen Goretexjacke wirkte er völlig anders als im Anzug.
»Sie haben Recht«, sagte er. »Vielleicht hilft es, dass wir Frederik finden. Lassen Sie mich nach unten steigen.«
Dr. Veit mischte sich ein: »Muten Sie sich das nicht zu.«
»Ich muss die Wahrheit wissen.« Seine Stimme strahlte eine Entschlossenheit aus, die sie bisher an ihm vermisst hatte, und zum ersten Mal erkannte Myriam die Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter.
»Keiner kann mich davon abhalten«, fuhr er fort. »Egal, was meine Mutter für Geheimnisse hatte. Sie hatte nicht das Recht dazu.«
Als Carl Winkler anstelle von Myriam unten war, merkte sie, wie erleichtert sie war. Er legte seine rechte Hand auf den
Sarg und ließ sie einige Sekunden dort liegen.
Bat er seine Mutter um Verzeihung?
Erklärte er es ihr?
Oder stellte er erst jetzt, zu spät, die Fragen, die er nie gestellt hatte?
Schließlich griff seine Hand nach dem Sargdeckel aus Mahagoni. Er war schwer. Nur mit Mühe schaffte er es, ihn nach oben zu heben.
Alle standen um das Grab und starrten hinunter. Panisch und fasziniert zugleich. Was machte eine Nacht unter der Erde aus einem menschlichen Leichnam? Fast erwarteten sie, dass Henriette Winkler aus dem Sarg verschwunden war, und Myriam hegte die unsinnige Hoffnung, dass mit dem Öffnen des Sarges auch ein für alle Mal das Geheimnis des Todes geklärt wurde.
Was natürlich nicht der Fall war. Vielmehr war alles wie es sein musste. Das wächserne, kräftig geschminkte Gesicht der alten Frau wirkte gefühllos wie das einer Puppe. Die Augen geschlossen, die Hände gefaltet, lag sie ordentlich da. Im Tod wie im Leben war sie korrekt gekleidet und trug reichlich Schmuck an Fingern und den Handgelenken.
Carl Winkler starrte seiner Mutter ins Gesicht. Dachte er daran, wie sehr er sie
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