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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Brust. Er wurde flach auf den Boden zurückgeschleudert. Mit dem Hinterkopf prallte er schmerzhaft auf das Pflaster. Die Treffer in die Brust hatten ihn erledigt, aber nicht schnell genug. Jacks Kopf kippte nach links. Während sein Tunnelblick sich noch stärker zusammenzog, sah er, daß ein schwarzweißer Streifenwagen mit hoher Geschwindigkeit von der Straße auf die Tankstelle bog und schlitternd zum Stehen kam, als der Fahrer auf die Bremse trat. Jacks Sehvermögen brach endgültig zusammen. Er war völlig blind. Er kam sich so hilflos wie ein Baby vor und fing an zu weinen. Er hörte, wie Türen geöffnet wurden und Beamte schrien. Es war vorbei. Lther war tot. Fast ein Jahr nachdem Tommy Fernandez an seiner Seite erschossen worden war. Zuerst Tommy, dann Luther. Zwei gute Partner, gute Freunde, in einem Jahr. Aber es war vorbei. Stimmen. Sirenen. Ein Knall, vielleicht ausgelöst von dem Dach, das über den Zapfsäulen zusammengebrochen war. Die Geräusche wurden zunehmend gedämpfter, als stopfe jemand ununterbrochen Baumwolle in seine Ohren. Sein Gehörsinn versagte nun genau so, wie es bei seiner Sehkraft der Fall gewesen war. Das galt auch für die anderen Sinne. Er schürzte wiederholt die trockenen Lippen, versuchte erfolglos, Speichel in den Mund zu ziehen und irgendeinen Geschmack zu bekommen, und sei es auch nur der von scharfen Benzindämpfen oder von brennendem Teer. Er konnte auch nichts riechen, obwohl die Luft noch vor einem Augenblick voll des üblen Gestanks gewesen war. Und er fühlte den Beton unter sich nicht mehr. Oder den brausenden Wind. Keine Schmerzen mehr. Nicht einmal ein Prickeln. Nur Kälte. Tiefe, durchdringende Kälte. Völlige Taubheit legte sich über ihn. Er klammerte sich verzweifelt an den Funken des Lebens in einem Körper, der zu einem unzureichenden Behälter für seinen Geist geworden war, und fragte sich, ob er Heather und Toby je wiedersehen würde. Als er versuchte, ihre Gesichter aus seinem Gedächtnis aufzurufen, konnte er sich nicht mehr erinnern, wie sie aussahen, seine Frau und sein Sohn, zwei Menschen, die er mehr liebte als sich selbst, konnte er sich nicht einmal mehr an ihre Augen oder ihre Haarfarbe erinnern, und das verängstigte, entsetzte ihn. Er wußte, daß er vor Trauer zitterte, als wären sie gestorben, aber er spürte das Zittern nicht, wußte, daß er weinte, fühlte die Tränen aber nicht, bemühte sich noch heftiger, sich ihre kostbaren Gesichter in Erinnerung zu rufen, Toby und Heather, Heather und Toby, doch seine Vorstellungskraft war so blind wie seine Augen. Seine Innenwelt war kein bodenloser Abgrund aus Dunkelheit, sondern ein leeres, winterhaftes Weiß, wie eine Vision von treibendem Schnee, ein Schneesturm, frostig, eisig, arktisch, unnachgiebig.

DRITTES KAPITEL
    Ein Blitz zuckte auf, gefolgt von einem heftigen Donnerschlag, der die Küchenfenster vibrieren ließ. Der Sturm begann nicht mit einem Sprühregen oder Tröpfeln, sondern mit einem plötzlichen Wolkenbruch, als wären die Wolken hohle Gebilde, die wie Eierschalen aufbrechen und ihren gesamten Inhalt auf einmal verschütten konnten. Heather stand neben dem Kühlschrank an der Küchenzeile, schaufelte Orangensorbet aus einem Behälter in eine Schüssel und drehte sich zu dem Fenster über dem Abfluß um. Der Regen fiel so heftig, daß es sich fast um Hagel oder Schnee zu handeln schien, um eine weiße Überschwemmung. Die Zweige der Ficus benjamina im Hinterhof hingen unter dem Gewicht dieses vertikalen Sturzbaches hinab, und ihre längsten Ausläufer berührten den Boden. Sie war froh, daß sie jetzt nicht auf den Autobahnen war, nicht zwischen Arbeitsstätte und Haus hin und her pendelte. Aus Mangel an Erfahrung fuhren die Kalifornier bei Regen ziemlich unsicher; entweder krochen sie nur noch dahin und waren so übervorsichtig, daß der Verkehr praktisch zum Erliegen kam, oder sie rasten wie die Verrückten und krachten mit einer Rücksichtslosigkeit ineinander, die fast schon an Begeisterung grenzte. Die Heimfahrt würde sich heute für viele Pendler von der üblichen Stunde zu einer zweieinhalbstündigen Geduldsprobe ausdehnen. Also gab es doch eine angenehme Seite der Arbeitslosigkeit. Sie hatte nur noch nicht ausdauemd genug danach gesucht. Wenn sie öfter darüber nachdachte, würde ihr bestimmt eine lange Liste weiterer Vorzüge einfallen. Zum Beispiel, keine Kleidung mehr für die Arbeit kaufen zu müssen. Wieviel hatte sie allein schon in dieser Hinsicht gespart? Und sie

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