Wintermond
Grab. Jack nahm sich vor, sich bei Paul Youngblood danach zu erkundigen. Der letzte Grabstein, der am Kopf der einzigen grasbewachsenen Parzelle stand, gehörte Stanley Quartermass, dem sie alle viel zu verdanken hatten. Die Inschrift auf dem verwitterten schwarzen Stein entlockte Jack ein Kichern. Hier liegt Stanley Quartermass / vor seiner Zeit gestorben / weil er mit / so verdammt vielen / Schauspielern und Drehbuchautoren / arbeiten mußte. Toby hatte sich nicht bewegt.
»Was soll das?« fragte Jack.
Keine Antwort. Er legte eine Hand auf Tobys Schultern. »Junge?«
»Was machen sie da unten?« sagte Toby, ohne den Blick vom Grabstein zu nehmen.
»Wer? Wo?«
»In der Erde.«
»Du meinst, Tommy und seine Eltern und Mr. Quartermass?«
»Was machen sie da unten?«
Es war nichts Seltsames daran, daß ein Kind den Tod verstehen lernen wollte. Er war für die Jungen nicht weniger geheimnisvoll als für die Alten. Jack kam nur seltsam vor, wie die Frage gestellt worden war.
»Na ja«, sagte er, »Tommy, seine Eltern und Stanley Quartermass... sie liegen eigentlich nicht in Wirklichkeit dort.«
»Doch, tun sie.«
»Nein, nur ihre Körper liegen hier«, sagte Jack und massierte sanft die Schultern des Jungen.«
»Warum?«
»Weil sie keine Verwendung mehr für sie hatten.«
Der Junge schwieg betroffen. Dachte er darüber nach, wie knapp sein Vater dem Schicksal entgangen war, ebenfalls unter solch einem Stein zu liegen? Vielleicht war seit der Schießerei nun genug Zeit verstrichen, daß Toby sich Gefühlen stellen konnte, die er bislang unterdrückt hatte. Die milde Brise aus dem Nordwesten frischte leicht auf. Jacks Hände waren kalt. Er steckte sie in die Jackentaschen.
»Sie haben nicht nur aus ihren Körpern bestanden«, sagte er, »jedenfalls nicht ausschließlich.«
Das Gespräch nahm eine noch seltsamere Wendung: »Du meinst, das waren nicht ihre richtigen Körper?« fragte Toby.
»Das waren nur Marionetten ?«
Stirnrunzelnd ließ Jack sich neben dem Jungen auf ein Knie hinab »Marionetten? Das ist aber ein seltsamer Ausdruck.«
Wie in Trance starrte der Junge auf Tommys Grabstein. Seine graublauen Augen blinzelten nicht einmal. »Toby, bist du in Ordnung?«
Der Junge sah seinen Vater noch immer nicht an. Statt dessen sagte er: »Surrogate?«
Jack blinzelte überrascht. »Surrogate?«
»Waren sie das?«
»Das ist aber ein schweres Wort. Wo hast du das gehört?«
»Warum brauchen sie diese Körper nicht mehr?« sagte Toby, statt die Frage zu beantworten.
Jack zögerte und zuckte dann die Achseln. »Na ja, mein Sohn, weißt du...sie haben ihre Aufgabe in dieser Welt erfüllt.«
»In dieser Welt?«
»Sie sind jetzt in einer anderen.«
»In welcher?«
»Du warst doch auf der Sonntagsschule. Das mußt du doch wissen.«
»Nein.«
»Sicher weißt du es.«
»Nein.«
»Sie sind jetzt im Himmel!«
»Sie sind in den Himmel gekommen?«
»Ja.«
»In welchen Körpern?«
Jack nahm die rechte Hand aus der Hosentasche und legte sie seinem Sohn unter das Kinn. Er drehte das Gesicht des Jungen von den Grabsteinen fort, bis sie sich in die Augen sahen. »Was ist los, Toby?«
Sie sahen sich an und waren nur Zentimeter voneinander entfernt, und doch schien Toby in die Ferne zu starren, durch Jack hindurch zu einem fernen Horizont.
»Toby?«
»In welchen Körpern?«
Jack ließ das Kinn des Jungen los und bewegte die Hand vor dessen Gesicht auf und ab. Der Junge blinzelte nicht. Seine Augen folgten den Bewegungen der Hand nicht.
»In welchen Körpern?« wiederholte Toby ungeduldig. Etwas stimmte mit dem Jungen nicht. Ein plötzlich auftretendes psychologisches Leiden. Von einer Katatonie begleitet.
»In welchen Körpern?« sagte Toby.
Jacks Herz begann heftiger und schneller zu schlagen, als er in die leeren teilnahmslosen Augen seines Sohnes sah, die keine Fenster seiner Seele mehr waren, sondern Spiegel, die die Welt draußen halten sollten. Falls es sich um ein psychologisches Problem handelte, bestand über die Ursache kein Zweifel. Sie hatten ein traumatisches Jahr hinter sich und genug durchgemacht, daß ein Erwachsener ganz zu schweigen von einem Kind - daran zerbrechen konnte. Aber was war der Auslöser, warum jetzt, warum hier, warum nach all diesen Monaten, in denen der arme Junge so gut mit dem Schock fertiggeworden zu sein schien?
»In welchen Körpern?« fragte Toby scharf.
»Komm«, sagte Jack und ergriff die behandschuhte Hand des Jungen. »Gehen wir zum Haus zurück.«
»In
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