Wintermond
welchen Körpern sind sie in den Himmel gekommen?«
»Toby, hör damit auf.«
»Ich muß es wissen. Sag es mir. Sofort.«
Lieber Gott, laß es nicht dazu kommen.
»Hör zu«, sagte Jack, der noch immer neben seinem Sohn kniete, »komm mit mir ins Haus zurück, und da können wir dann...«
Toby wand die Hand aus dem Griff seines Vaters und ließ Jack mit dem leeren Handschuh zurück. »In welchen Körpern?«
Das kleine Gesicht war ausdruckslos, so sanft wie ein stehendes Gewässer, und doch brachen die Worte mit dem Tonfall eiskalter Wut hervor. Jack hatte das unheimliche Gefühl, sich mit der Puppe eines Bauchredners zu unterhalten, die ihre hölzernen Gesichtszüge nicht dem Klang ihrer Worte anpassen konnte.
»In welchen Körpern?«
Das war kein Zusammenbruch. Ein geistiger Zusammenbruch kam nicht so plötzlich so vollständig, ohne Warnzeichen.
»In welchen Körpern?«
Das war nicht Toby. Nicht -Toby stellte diese Frage. Lächerlich. Natürlich war es Toby. Wer sonst? Jemand sprach durch Toby. Ein verrückter, unheimlicher Gedanke. Durch Toby? Nichtsdestoweniger sah Jack, als er dort auf dem Friedhof kniete und seinem Sohn in die Augen sah, nicht mehr die Leere eines Spiegels, wenngleich er in der doppelten Reflexion sein eigenes erschrecktes Gesicht ausmachte. Er sah auch nicht die Unschuld eines Kindes, sah gar keine vertraute Eigenschaft mehr. Er nahm eine andere Gegenwart wahr - oder bildete es sich zumindest ein -, etwas, das zugleich weniger als auch mehr als ein Mensch war, eine seltsame, unbegreifliche Präsenz, die ihn aus Toby ansah.
»In welchen Körpern?«
Jack konnte nicht schlucken. Die Zunge klebte an seinem Gaumen. Er produzierte keinen Speichel mehr. Ihm war kälter, als es sich eigentlich durch den Wintertag erklären ließ. Ganz plötzlich war ihm viel kälter. Es ging über bloßes Frieren hinaus. Er hatte so etwas noch nie empfunden. Ein zynischer Teil von ihm wollte ihm einreden, er benähme sich lächerlich, hysterisch, ließe sich von einem primitiven Aberglauben überwältigen - und das alles, weil er nicht die Vorstellung verkraftete, daß Toby eine psychotische Episode erlebte und in ein geistiges Chaos stürzte. Andererseits war es genau die primitive Natur dieser Wahrnehmung, die ihn überzeugte, daß eine andere Präsenz Tobys Körper mit seinem Sohn teilte: Er spürte etwas auf einer grundlegenden Ebene, tiefer, als er je zuvor gespürt hatte; es war ein verläßlicheres Wissen, als sein Intellekt es ihm hätte vermitteln können, als habe er den Geruch der Pheromone eines Feindes aufgenommen; seine Haut prickelte vor den Vibrationen einer unmenschlichen Aura. Sein Magen verkrampfte sich vor Furcht. Schweiß brach auf seiner Stirn aus, und auf seinem Nacken bildete sich eine Gänsehaut. Er wollte aufspringen, Toby hochnehmen und mit ihm den Hügel zum Haus hinablaufen, um ihn aus dem Einfluß der Wesenheit zu bringen, die ihn in ihren Bann geschlagen hatte. Ein Gespenst, ein Dämon, der Geist eines alten Indianers? Nein, lächerlich. Aber irgend etwas war es, verdammt. Irgend etwas. Er zögerte, zum Teil, weil er von dem wie versteinert war, das er in den Augen des Jungen zu sehen glaubte, zum Teil, weil er befürchtete, daß er dem Jungen irgendwie Schaden zufügen, ihn vielleicht geistig schädigen würde, wenn er die Verbindung zwischen Toby und dem, was auch immer in ihm steckte, gewaltsam unterbrach. Was keinen Sinn ergab, nicht den geringsten. Aber andererseits ergab nichts davon Sinn. Eine träumerische Eigenschaft charakterisierte den Augenblick und den Ort. Es war Tobys Stimme, ja, aber nicht sein übliches Sprachmuster: »In welchen Körpern sind sie in den Himmel gekommen?«
Jack entschloß sich, die Frage zu beantworten. Während er Tobys leeren Handschuh in der Hand hielt, stieg das schreckliche Gefühl in ihm empor, daß er mitspielen mußte oder einen Sohn bekommen würde, der so schlaff und hohl wie der Handschuh war, die entleerte Hülle eines Jungen, ein Äußeres ohne Inhalt. Diese geliebten Augen würden dann auf ewig leer bleiben. Und wie verrückt war das? Seine Gedanken rasten. Jack hatte das Gefühl, am Rand eines Abgrunds zu schweben, er drohte jeden Augenblick das Gleichgewicht zu verlieren. Vielleicht erlitt er den Zusammenbruch.
»S-Sie brauchen keine Körper, Skipper«, sagte er. »Das weißt du doch. Im Himmel hat niemand Verwendung für einen Körper.«
»Sie sind Körper«, sagte das Toby-Ding rätselhaft. »Ihre Körper sind.«
»Nicht
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