Wintermond
Antworten auf Hunderte, wenn nicht gar Tausende Fragen finden, die ihre Entscheidung beeinflussen und ihre Erfolgschancen in der von ihnen auserwählten Branche verbessern würden. Das ländliche Montana bot einen genauso umfassenden Zugriff auf Wissen wie Los Angeles oder Manhattan oder die Oxford-Universität. Man brauchte nur eine Telefonleitung, ein Modem und Zugriff auf ein paar gute Datenbanken. Gegen drei Uhr, nachdem sie etwa eine Stunde lang gearbeitet hatte die Geräte waren miteinander verbunden, und alles funktionierte -, erhob Heather sich von ihrem Stuhl und streckte sich. Sie dehnte die Rückenmuskulatur und ging zum Fenster, um herauszufinden, ob es schon frühzeitig zu schneien angefangen hatte. Die Wolken hingen tief im Novemberhimmel, ein einförmiges Bleigrau, wie eine gewaltige Plastikverschalung, hinter der trübe Leuchtstoffröhren brannten. Da braucht man keinen Wetterbericht, um zu sehen, daß es bald schneit, sagte Heather sich. Der Himmel sah so kalt wie Eis aus. In dem schwachen Licht wirkten die höherstehenden Bäume eher grau als grün. Der Hinterhof und die braunen Wiesen im Süden schienen verdorrt zu sein und keinesfalls auf den Frühlingsbeginn zu warten. Einfarbig wie eine Holzkohlezeichnung, war die Landschaft doch wunderschön. Eine andere Schönheit als die, die sich unter der warmen Liebkosung der Sonne eröffnete. Starr, düster, trüb-majestätisch. Sie sah im Süden einen kleinen Farbsprenkel, auf dem Grashügel nicht weit vom Waldrand, auf dem der Friedhof lag. Leuchtend rot. Es war Toby in seinem neuen Skianzug. Er stand innerhalb der dreißig Zentimeter hohen Steinmauer. Ich hätte ihm sagen sollen, nicht dorthin zu gehen, dachte Heather mit einem Anflug von Besorgnis. Dann wunderte sie sich über ihr Unbehagen. Warum kam ihr der Friedhof gefährlicher vor als der Hof direkt an seiner Grenze? Sie glaubte doch sonst nicht an Geister oder verwunschene Orte.
Der Junge stand völlig bewegungslos vor einem Grabstein. Heather beobachtete ihn eine, zwei Minuten lang, aber er rührte sich nicht. Für einen Achtjährigen, der normalerweise mehr Energie hatte als ein Atomkraftwerk, war das ein außergewöhnlich langer Zeitraum der Untätigkeit. Der graue Himmel schien sich zu senken, während sie Toby beobachtete. Das Land schien immer dunkler zu werden. Toby stand bewegungslos da. Die arktische Luft machte Jack nichts aus, belebte ihn sogar, einmal davon abgesehen, daß sie tief in die Knochen und das Narbengewebe seines linken Beins eindrang. Aber er konnte ohne zu humpeln den Hügel zum Privatfriedhof hinaufsteigen. Er trat zwischen den beiden einen Meter hohen Steinpfosten hindurch, die - auch ohne Tor - den Eingang zu der Begräbnisstätte markierten. In der Kälte kondensierte sein Atem vor dem Mund zu Federbüschen. Toby stand am Fuß des vierten und letzten Grabes der Reihe. Seine Arme hingen hinab, der Kopf war gesenkt, und er hatte den Blick auf den Grabstein gerichtet. Der Frisbee lag neben ihm auf dem Boden. Er atmete flach, daß nur wenig Feuchtigkeit vor seinem Mund kondensierte.
»Was ist los?« fragte Jack.
Der Junge antwortete nicht.
Der Grabstein, den Toby anstarrte, war mit dem Namen THOMAS FERNANDEZ und dem Geburts- und Todestag graviert. Jack brauchte den Grabstein nicht anzusehen, um den Todestag zu erfahren; der war viel tiefer in sein Gedächtnis gemeißelt, als die Ziffern in den Stein vor ihm geschlagen waren. Seit sie am Dienstag morgen angekommen waren und die erste Nacht bei Paul und Carolyn Youngblood geschlafen hatten, hatte Jack noch keine Zeit gehabt, um sich den Privatfriedhof näher anzusehen. Auch war er nicht gerade versessen darauf gewesen, vor Tommys Grab zu stehen, weil er befürchtet hatte, daß dort Erinnerungen an Blut und Tod geweckt und ihn in die Verzweiflung treiben würden. Links von Tommy befand sich ein Doppelgrab. Auf dem Stein standen die Namen seiner Eltern - EDUARDO und MARGARITE.
Obwohl Eduardo schon seit ein paar Monaten hier lag, Tommy seit einem Jahr und Margarite seit drei Jahren, sahen alle Gräber so aus, als wären sie erst vor kurzem ausgehoben worden. Die Erde bedeckte sie ungleichmäßig, und auf dieser Erde wuchs kein Gras, was Jack seltsam vorkam, da das vierte Grab flach und mit seidigem braunem Gras bedeckt war. Ihm war klar, daß die Totengräber die Oberfläche von Margarites Grabstätte beschädigt hatten, um Eduardos Sarg neben dem ihren zu bestatten, aber das erklärte keineswegs den Zustand vom Tommys
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