Wintermond
erlebte Gewalt kaum begreifen. In ihrer Welt hatten Übergriffe bislang in gemeinen Kommentaren und Nichtbeachtung bestanden. Dass sie in den letzten Tagen so oft bedrängt und attackiert worden war, brachte etwas in ihr zum Wanken. Würde sie fortan eine dieser Frauen sein, in deren Blick stets eine Spur von Furcht zu erkennen war? Nein, dachte Meta entschlossen. Sie konnte sich wehren. Daran würde sie sich festhalten, auch wenn diese Gabe, wie Rahel es genannt hatte, sie verstörte.
Mit klammen Fingern raffte sie den Mantel vor ihrer Brust zusammen, und bei der Erinnerung, wie Hagen ihn Stück für Stück geöffnet hatte, wurde ihr speiübel. Reiß dich zusammen, stachelte sie sich an.Versuch dich lieber an die wenigen Sätze zu erinnern, die Hagen und dieser Anton ausgetauscht haben. Dabei lief sie im weitläufigen Saal auf und ab, bis die Wärme langsam wieder in ihre Glieder zurückkehrte. Was hatte Hagen gesagt? Ihr Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte gefüllt, doch das konnte eigentlich nicht sein, denn ihr Hirn knallte bei jedem Schritt schmerzhaft gegen die Stirn. Hagen hatte von David gesprochen … Bevor er gegangen war, hatte er gesagt, er würde nun David aufsuchen.
Abrupt blieb Meta stehen, als ihr klarwurde, was Hagen vorhatte: Er würde David mit Gewalt unterwerfen, wenn nicht sogar töten. Und David würde ihm unterlegen sein, das spürte sie mit schmerzlicher Klarheit. Sie kannte die Wölfe der beiden Männer, und Hagens war eindeutig stärker.
Mit schnellen Schritten lief Meta zur Tür und begann, an der Klinke zu reißen, doch sie war verschlossen. Trotzdem zerrte sie noch ein paarmal daran, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun konnte. Als ihr Herzschlag nicht mehr ganz so dröhnend durch ihren Körper pulsierte, versuchte sie, sich zu sammeln.
Innerhalb von wenigen Tagen war ihr gesamtes Weltbild auf den Kopf gestellt worden, und ein paar Stunden in diesem Saal hatten ausgereicht, um die Sonntagsessen im Kreise der Familie wie Geschichten aus einer fernen Märchenwelt erscheinen zu lassen. Nun lebte sie unter Schatten, Schatten, die ihre Form verändern und zu gefährlichen Raubtieren werden konnten. Sie, die smarte Galeristin, deren Lebenslauf sich kaum von denen ihrer Freundinnen unterschied. Wie sollte sie bloß damit umgehen, um inmitten dieses Wahnsinns nicht zu zerbrechen? Dass sie die Antwort darauf bereits kannte, machte es nicht einfacher: Ein Teil ihrer selbst war mit dem Schattenwolf verbunden. Warum sonst wäre sie wohl in der Lage, ihn zu rufen und ihm Obhut zu gewähren? Ihm gar eine Form zu verleihen?
Vorsichtig näherte Meta sich der größten Verletzung, die sie hatte hinnehmen müssen: die Trennung von David. Allerdings sah sie nun die Geschehnisse in der Gasse in einem anderen Licht: Er war gegangen, weil er ihre Gabe nicht erkannt hatte. Deshalb war er sich so sicher gewesen, dass sie sich, nachdem sie seinen Wolf gesehen hatte, von ihm abwenden würde. Außerdem hatte er sie schützen wollen, denn mit ihm sollte auch die Gewalt wieder aus ihrem Leben verschwinden. Auf die Idee, dass die Wölfe bereits ihre Spur aufgenommen hatten, war er vermutlich gar nicht gekommen.Was hatte Rahel gesagt: Wolf und Rudel gehören zusammen. Wenn man versucht, sie voneinander zu trennen, endet es in einem Desaster. Die ganze Zeit über hatte sich bei David alles nur darum gedreht, den Wolf vor ihr zu verbergen. Dabei hatte er übersehen, dass sein Wolf Teil von etwas Größerem war und sie offensichtlich dazugehörte. Nun würden sie beide dafür zahlen müssen, dachte Meta mutlos.
Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die Tür einen Spalt. Zuerst stolperte Meta vor Schrecken ein paar Schritte rückwärts, dann hielt sie verblüfft inne. Da stand eine Frau, noch halb verdeckt vom Schatten, und musterte sie neugierig. Meta legte den Kopf schief und versuchte zu begreifen, mit wem sie es zu tun hatte. Die Frau mochte ungefähr so alt wie sie sein, etwas größer und die Silhouette eindeutig weiblicher, wie die eng anliegende Kleidung verriet. Obwohl das Licht im Saal äußerst spärlich ausfiel, schimmerte ihr Gesicht in einem Bronzeton, der das Blau ihrer Augen unecht erstrahlen ließ.
Die Frau blinzelte Meta zu und schloss die Tür hinter sich. »Hagen hätte vorsichtiger mit deinem Gesicht umspringen sollen«, erklärte sie, während sie langsam auf Meta zuschritt.
Unwillkürlich betastete Meta ihre Wange, wo Hagens Schlag sie getroffen hatte. Obwohl die Frau lächelte
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