Wintermord
Hauptbahnhof abholen, wo er mit einem Kumpel aus Stockholm Bowling gespielt und ein paar Bier getrunken hatte. Beide Männer waren ziemlich betrunken und machten keine Anstalten, mit ihr nach Hause zu fahren. Sie nahm mürrisch auf einem Barhocker Platz und wartete, während sich die Jungs noch ein Bier und einen Shot bestellten. Der Mann, der Christian Tell zumindest ähnlich sah, saß neben ihr an der Bar und kommentierte halb amüsiert, halb mitleidig ihre Lage. Sie wusste noch, wie attraktiv er auf sie gewirkt hatte und wie peinlich es ihr war, wie ein Hund auf sein Herrchen zu warten.
Åkes fester Griff riss sie zurück in die Wirklichkeit.
Sie kam ihm flüsternd zuvor: »Ich dachte, wenn ich sage, dass ich dabei war, kann ich bleiben.«
Mittlerweile schien er seine Sprache wiedergefunden zu haben.
»Weißt du, was du gerade getan hast? Du hast die Polizei in einem Mordfall belogen und mich mit reingezogen. Jetzt müssen wir weiterlügen und ...«
»Bitte, Åke ... Ich kann dir das jetzt nicht erklären.«
Åkes tadelnder Blick zeigte deutlich, dass er nicht gewillt war, zuzuhören. Stattdessen bückte er sich, um etwas vom Boden aufzuheben, als wäre er auch Kriminaltechniker.
Seja war klar, dass sie jetzt nicht mehr viele Alternativen hatte: Entweder verrannte sie sich in weitere Lügen oder sie kroch zu Kreuze und ließ sich wegschicken.
Es war Sensationsgier, die Menschen dazu bringt, an einem Unfallort gaffend stehen zu bleiben – doch in ihrem Fall steckte mehr dahinter. Ohne einen bewussten Entschluss ging sie näher an den Schauplatz heran und bog um die Ecke der Scheune. Dort waren eine Frau und mehrere Männer mit einem Menschen beschäftigt, der in einer seltsamen Haltung auf dem Kies lag.
Das Handy mit Kamerafunktion brannte ihr in der Tasche. Seja zwang sich, den Blick nicht abzuwenden und ging noch ein paar Schritte näher. Irgendwo hinter sich hörte sie, wie Åke getadelt wurde, weil er ein Kaugummipapier aufgehoben und damit Beweismaterial zerstört hatte. Doch das ging Seja jetzt nichts an, im Moment interessierte sie nur diese Leiche.
Als sie das Gesicht des Mannes sah, durchforschte sie fieberhaft ihr Gedächtnis. Er sah nicht so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte, was sie gleichzeitig erleichterte und enttäuschte.
Sie wagte zunächst nicht, das Handy hervorzuholen, aber dann wollte sie diesem Toten doch nicht schutzlos gegenüberstehen. Verstohlen schoss sie ein Bild aus Hüfthöhe, und jedes Mal, wenn sie wieder auf den Auslöser drückte, erwartete sie, dass einer der Polizisten auf sie zustürmen und ihr das Handy aus der Hand reißen würde. Doch nichts dergleichen geschah.
Schließt ihm doch die Augen, verdammt noch mal. Dieser spontane Gedanke verblüffte sie selbst. So einen marineblauen Helly-Hansen-Pullover hatte ihr Vater im Winter auch oft getragen. Blut hatte das blonde Haar durchtränkt, war getrocknet und hart geworden. »Schließt ihm doch die Augen«, flüsterte sie und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Da tauchte Tell wieder auf. Eine Sekunde blickte er ihr fragend in die feuchten Augen, dann gab er Åke zu verstehen, dass er ihm in den Van am Wegrand folgen sollte. Sie lief ihnen über den Rasen hinterher und fühlte sich ertappt.
Auf einem Klapptisch stand eine Thermoskanne neben Plastikbechern und einer Blechdose mit Lebkuchen.
»Kaffee?«
Seja nickte, obwohl sich ihr fast der Magen umdrehte. Christian Tell schenkte ihnen ein, seine breiten Hände übten eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Im Licht, das durch die beschlagenen Scheiben fiel, bemerkte sie den blonden Flaum auf seinen Handrücken. Er trug keinen Ehering.
»So ... Sie haben also angerufen, Åke. Darf ich Åke sagen?«
Åke nickte. Er war kreidebleich.
»Kannten Sie das Opfer? Wussten Sie, wer das war?«
»Nein, überhaupt nicht. Dass er Edell heißt, steht ja auf dem Schild.«
Tell wandte sich mit fragendem Blick an Seja. Sie schüttelte den Kopf.
»Ihr Anruf kam um 7 Uhr 49, Åke. Zu diesem Zeitpunkt hatten Sie beide die Leiche gefunden und waren zur Hauptstraße hochgefahren.«
Seja brachte es nicht fertig, Tell in die Augen zu sehen. Sie rührte den dampfenden Kaffee nicht an, ihre zitternden Hände hätten sie sofort verraten.
Tell fuhr fort. »Ich muss so genau wie möglich wissen, wie spät es war, als Sie bei der Werkstatt ankamen und den Toten fanden.«
Åke räusperte sich zum dritten Mal. »Äh ... Ich, oder wir ... sind zu Hause losgefahren ... Also, wir
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