Winterreise
Büjükdere. Auf dem Bosporus fuhren immer große Schiffe, riesige Dampfer, hinter denen Wellen an das Haus schlugen. Der Vater war, nachdem er zurückgekehrt war, vor dem Haus gesessen, bis es dunkel geworden war, und die Geschwister hatten geflüstert. Am nächsten Abend hatte es an die großen Fensterläden geschlagen. Er hatte sie geschlossen, da er gedacht hatte, jemand aus dem Haus riefe nach ihm und das Rauschen des Meeres würde es übertönen, und da war etwas vom Fenster weggeflogen. Er hatte nachgeschaut, aber nichts mehr gesehen. Wahrscheinlich war es eine Möwe gewesen, hatte er später gedacht. Aber damals hatte er gedacht, daß es sein Bruder gewesen sei.
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Sie hatten sich auf eine Bank am Fluß unter kahle Bäume gesetzt. Er war müde und dachte an die Toten. Um Arbeit zu finden, war der Urgroßvater nach Wies gewandert, von Köflach nach Vordersdorf, von Voitsberg nach Moosbrunn, von dort nach Reifnig. In Köflach hatte er eine Frau aus Schneegattern in Oberösterreich geheiratet. Die Hochzeit war eine neue Hoffnung, ein kurzes Auftauchen aus der Bewußtlosigkeit gewesen. Am Ende des Sommers war er nach Piran gezogen und dann weiter nach Stambul, um in einer italienischen Fabrik als Glasbläser zu arbeiten. Das Leben war die Arbeit gewesen. Der Großvater war am Bosporus zur Welt gekommen, auf der kleinasiatischen Seite, und hatte, ohne es zu wissen, immer nach Europa geschaut.
Wenn er auf den Bosporus hinausblickte, glaubte er, die ganze Welt zu sehen. Alles war in ihm enthalten, sichtbar und verborgen. Riesige Schiffe zogen vorüber mit fremden Menschen, und vor dem Haus wurden Fische und Muscheln angeschwemmt. Auch das Wissen der Menschen schien aus dem Bosporus zu kommen. Manchmal hatte die Mutter ihn zu einem Glasschleifer geschickt, der die Kinder unterrichtete, er hatte zum Fenster auf den Bosporus hinausgeschaut, und da er nichts verstanden hatte, hatte für den Großvater ein merkwürdiger Zusammenhang zwischen den Ziffern und Buchstaben, die auf der Schultafel auftauchten, und dem Bosporus bestanden. Dann hatte der Urgroßvater zurück in die Welt gewollt. Die Welt war zuerst die Fremde, dann war es die österreichische Monarchie gewesen. Er hatte keine Zeit. Er suchte die Hoffnung wie eine untreue Geliebte, der er verfallen war und die ihn ununterbrochen betrog und verließ. In Triest war es kalt. Die neue Hoffnung, das Leben, die Welt waren für den Großvater Eindrücke von Kälte. Von den Schiffen hingen Eiszapfen. Zum ersten Mal sah er Schnee. Die Wohnung war feucht und dunkel, nur die Schiffe am Hafen waren Boten der Hoffnung. Der Urgroßvater zog nach Reifnig und, da er seine Familie dort nicht erhalten konnte, nach Vordersdorf, nach Köflach, zurück nach Moosbrunn, dann wieder nach Osredek und Salgotarjan. Wie merkwürdig es für Nagl war, hier zu sitzen am Tiber und an die Lebensgeschichte von Toten zu denken. In der Ferne sah er die Engel jetzt wie dunkle Schatten vor der Sonne. Das Merkwürdige war, daß die steinernen Engel wirklicher waren als das, woran er dachte. Es war vergangen, als hätte es nie existiert. Mit den Toten waren die Leiden vergangen, und die Menschen hatten gelebt, indem sie sich mit ihrem Leben abgefunden hatten.
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Der Druck war von seiner Brust verschwunden, und als sie an einem Geschäft für Priesterkleider vorbeikamen, erinnerte er sich, daß sie Annas Witwenhut in Neapel zurückgelassen hatten. Im Geschäft hingen Soutanen auf Kleiderständern, Priesterhüte und Bischofsmützen. Der Besitzer kam wortlos heraus und zeigte mit einem Finger zum Himmel. Unwillkürlich blickte Nagl auf, und da zog ein endloser Schwarm von Tausenden und aber Tausenden Singvögeln über die Häuser. Der Mann, der aus dem Geschäft getreten war, war hager, groß und gekrümmt und hielt eine Soutane, an der er arbeitete, über dem Arm. Er rückte sich die Brille zurecht und starrte minutenlang zu den Vögeln hinauf, die wie ein Heuschreckenschwarm über die Stadt flogen. Wenn Nagl seinen Blick abwandte, hob der hagere Mann wieder seinen Finger. Man hörte nicht das Flügelschlagen der Vögel und nicht ihre Stimmen, so hoch flogen sie. Hinter den Häusern, wo die Regenwolken tiefer waren, verschwanden sie, und der Mann mit der Soutane nickte und zog sich wieder in das Geschäft zurück. Auf der Piazza Navona schrieen Kinder zwischen den teefarbenen, olivgrünen und jodbraunen Häusern und den weißen Springbrunnen. Ein hübsches Mädchen in einem gelben Kleid mit einem
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