Winterreise
und griffen in das geöffnete Maul, die Nasenlöcher und die Ohren. Scheißende Pferde mit gelangweilt schauenden Reitern überholten sie auf der Straße.
Zu Mittag saßen sie in der Glasveranda des Cafes »Doney« inmitten verwaister blauer Stühle. Auf dem pfirsichfarbenen Tischtuch standen die Aperitifs mit Eiswürfeln. Nagl dachte daran, daß Winter war. Die Glasveranden auf der Via Veneto waren leer. Zum ersten Mal empfand Nagl das Gefühl, Zeit zu haben. Er nahm sich vor, weiterzureisen. Er wußte nicht, wohin er reisen würde. Er überlegte, nach Sizilien zu fahren, nach Catania oder Messina. Dann hatte er die Idee, nach Florenz zu fahren oder nach Venedig. Im Grunde war es egal, wohin er fuhr.
An den Blumenständen blühten Anemonen, Gladiolen, Tulpen und Rosen. Anna stand vor einem Handschuhgeschäft und betrachtete die roten, dunkelblauen, schwarzen und weißen Handschuhe aus Wild- und Glattleder mit eingearbeiteten Mustern. Im Vorraum einer kleinen Kirche nähte eine schwarzgekleidete Nonne auf einer Bank ein gestreiftes Krankenhemd. Von kleinen Seitenkapellen leuchtete das Sonnenlicht auf goldene und blaue Wandbilder. Nagl entzündete eine Kerze für die Toten, an die er gedacht hatte. Viele hatte er noch gekannt. Eine schwarzhaarige Großtante, die bei Heimatabenden gejodelt hatte. Einmal hatte sie im Radio gejodelt, und die Geschwister hatten voll Bewunderung über sie gesprochen. Nagl hatte ein Bild gesehen, auf dem sie im Trachtengewand mit einer Heimatgruppe posierte, sie hatte künstliche Edelweiße in das Haar geflochten und saß neben einem tiefernst in die Kamera blickenden Zitherspieler. Und einen Bruder, der bis zu seinem fünfundsiebzigsten Jahr Flaschen geblasen hatte, der langsam gesprochen und ihm ein Fahrrad vererbt hatte. Er hatte kräftige Arme gehabt und war ein ernster Mensch gewesen, der bei Begräbnissen Trauerchoräle sang. Wenn er vom Tod seines Vaters sprach, kamen ihm die Tränen. Am grauen Star war er fast vollständig erblindet, aber er mußte bis zuletzt Hilfsarbeiten in der Glasfabrik verrichten. Er war an Tuberkulose gestorben, und der Arzt hatte Auszehrung als Befund in den Totenschein geschrieben. In dieser Zeit war der Großvater selbst der Arbeit nachgegangen. Von Graz nach Vösendorf, von Vösendorf nach Meißen, von Meißen nach Torgau, weiter nach Frankfurt an der Oder, Fürstenwalde und Berlin. In den Herbergen entlauste man ihn und kontrollierte das Arbeitsbuch. Er zog weiter, von Berlin nach Dresden, von Dresden nach Aussig, von Aussig nach Prag und Brünn, dann wieder nach Hause, nach Grafenschlag-Ottenschlag und Mariazell. 1910 hatte er dann den Entschluß gefaßt, nach Amerika auszuwandern.
Sie fanden nicht sofort aus der Kirche, da der Haupteingang versperrt war. Sie versuchten verschiedene Türen, bis sie draußen im Tageslicht standen, zwischen ocker- und tabakfarbenen Häusern auf einer weißen Steinstufe. Ein Dalmatinerhund lag schläfrig vor der Kirche. Eine Frau stand daneben und sprach mit ihm, aber der Hund rührte sich nicht. Anna wollte den Hund streicheln und mit der Frau sprechen, aber Nagl mochte nicht stehen bleiben. Sie gingen in das Hotelzimmer zurück und verschliefen den restlichen Tag.
40
Es war sechs Uhr, als Nagl erwachte. Er schaute aus dem Fenster: Unter ihm lag die Via Cavour, die Straße war abgesperrt, und vom Bahnhof her bewegte sich eine Demonstration zur inneren Stadt. Anna wollte auf die Straße gehen, und sie fuhren im Lift mit einem verschreckten Kellner, der gerade Kaffee in ein Büro servierte. Nagl sah sich im Spiegel, er erblickte sein unrasiertes Gesicht, die wirren Haare, den schmierigen Mantel. Auf der Straße zogen Menschenmassen vorbei. Polizisten mit Schlagstöcken, Stahlhelmen und Schilden standen gleichmütig herum. Plötzlich flog ein Pflasterstein, kollerte unter die Räder eines Bereitschaftsbusses und blieb liegen. Wie auf ein Zeichen stürzten die Polizisten auf die Demonstranten los, während von verschiedenen Seiten Pflastersteine flogen und Tränengas sich über der Fahrbahn ausbreitete. Die Demonstranten hatten sich auf die Gehsteige, hinter Bäume und in Nebenstraßen zurückgezogen, und Nagl glaubte, daß sich die Versammlung aufzulösen begänne, als ein Personenauto in Flammen aufging und Schüsse fielen. Im selben Augenblick sah er, wie eine junge Frau an ihnen vorbeigetragen wurde. Sie war blond und achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Ihre Augen waren geöffnet und schwarzes Blut stand in ihrem
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