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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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sich genommen hatte. Anna war weitergegangen und hatte sich in einen Beichtstuhl gekniet. Er wunderte sich, was sie beichten wollte. Das Leben schien ihm so voller Leiden, daß es mühevoll war, es überhaupt zu leben, ohne daß man sich selbst aufgab. Ein Stück weiter sah er Papst Iosophat in einem Glasschrein liegen, sein Schädel war bis auf die Knochen verwest, und das Gesicht von einem Netz verdeckt, durch das er die Form des Totenschädels sah. Aber vorne, am Altar, leuchtete ein honigfarbenes Fenster mit einer weißen Taube, wie um seine Betroffenheit zu mildern.
33
    Er ging durch den marmorschimmernden Dom, goldene Blätter und Blumen verzierten die Bronzesäulen des großen Altars, und die Kuppel über dem roten Baldachin schien ein riesiges Fenster in das violette All zu sein. Nagl sah an goldenen Sternen vorbei immer weiter, in schwindelerregende Höhen.
    Er stieg zum Dach des Petersdomes hinauf und war dort den Regenwolken so nahe, daß er glaubte, sie berühren zu können. Die Sonne schien und beleuchtete die riesigen Heiligen, zwischen denen er jetzt auf die Stadt hinunterblickte. Die Wendeltreppe zur Kuppel war schmal, und die rostfarbenen Wände waren mit Namen bekritzelt. Durch eine Öffnung traten sie auf einen Balkon, der im Inneren rund um die Kuppel lief. Die Menschen unter ihnen sahen so klein aus, daß Nagl schwindlig wurde. Er machte einen Schritt zurück, berührte mit seinen Händen die goldenen und blauen Mosaiksteine, die von unten so wunderbar geleuchtet hatten, und ging wieder zur Stiege hinaus. Seine Beine schmerzten ihn, als er um die kugelförmige Kuppel stieg, dann traten sie ins Freie, die Regenwolken lagen unter ihnen, und sie sahen durch die Regenwolken die weißen Heiligenfiguren.
34
    Nagl war erschöpft und fühlte sich krank. Er dachte daran, wie es wäre, wenn er zurückkäme. Er konnte diesen Gedanken nur von sich schieben, ohne eine Lösung zu finden. Er wollte sich treiben lassen, aber es gelang ihm nicht. Ihm fiel ein, wie dumm er sich als Kind in der Schule vorgekommen war. Er hatte rechnen gelernt wie eine Maschine, er hatte geschrieben wie eine Maschine, ohne zu wissen wofür. Er hatte nur einen unausweichlichen Zwang gefühlt, eine Ausweglosigkeit, vor der er verstummt war. »Es hat keinen Sinn«, hatte er oft gedacht, wenn er aufgegeben hatte, als ob das, was nachher kam, mehr Sinn gehabt hätte. Er hatte die Kinder zur Unauffälligkeit und zum Schweigen erzogen, weil er glaubte, daß es das Beste für sie war. Natürlich mußten die Kinder fröhlich sein. In Wahrheit hatten sie gelernt, sich anzupassen und zu verstellen, sie hatten Verheimlichen gelernt und sich in Szene zu setzen. Die es nicht gelernt hatten, waren zurückgeblieben. – Zwei mit weiß-roten Kleidern angezogene Ministranten mit einem Weihwasserkessel hoben die Kleider, als sie die Treppen zum Petersdom hinaufgingen, wie keusche Frauen. Nagl sah ihnen nach. Es fehlte ihm etwas, aber er hatte nie darüber gesprochen. Auch die anderen klagten nicht. Anna war vorausgegangen und hatte sich bei einem Straßenverkäufer Eis gekauft, mit dem sie lachend auf ihn zukam.
35
    Von weitem sahen sie die Steinengel auf der Engelsbrücke, es war Mittag und das Licht spiegelte sich auf dem braunen, zäh dahinfließenden Tiber. Vor der Engelsbrücke lag ein halbzerfallenes Schiff mit einem Holzhaus und einer Veranda. Über dem mit vielen Wirbeln dahinfließenden Fluß erhoben sich die Engel weiß und schön, mit großen Flügeln und faltigen Gewändern, wie Wesen eines eisigen, lichtdurchfluteten Planeten. Im harten Sonnenlicht, das durch die Regenwolken drang, war es, als strahlte von ihnen ein fernes Nordlicht aus, das dem Wasser unter ihnen einen silbernen Schimmer gab. Nagl ging zum Fluß hinunter, und von dort aus zeigten ihm die Engel den Rücken.
     
    Anna saß auf einer Stufe und streckte ihre schmerzenden Beine von sich. Auch Nagls Beine schmerzten, er war voll Erdenschwere, und die Geschichte fiel ihm ein, die sein Großvater vom Tod seines Bruder erzählt hatte. Er war an den Fraisen gestorben. Zwei Tage war er in einem leergeräumten Zimmer mit geschrubbtem Bretterboden aufgebahrt gelegen, die Sonne hatte durch das Fenster auf ihn geschienen, und sein Gesicht hatte fremd ausgesehen. Die Mutter hatte ihm ein Bild mit einem Engel gezeigt und gesagt, daß sein Bruder ein Engel geworden sei. Nach zwei Tagen hatten sie den Bruder in einen Sarg gelegt und waren mit ihm auf den Bosporus hinausgefahren, nach

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