Winters Herz: Roman (German Edition)
wusste nur, dass sie zweimal versucht hatte, an ihnen vorbeizukommen. Zweimal . Sie hatte mit dem Rücken zu den Steinen dagesessen, sich mit der Sonne auf dem Gesicht an sie gelehnt und war keinen Schritt aus Darnshaw herausgekommen. Aber jetzt reiste sie ab, und niemand würde sie daran hindern können.
Er wird dir Ben wegnehmen.
Nein, sie verließ Darnshaw mit ihrem Ehemann und nahm ihren Sohn mit. Hier gehörte sie her. In diesen Wagen, der sie die Straße entlang forttrug …
»Bist du sicher, dass dir nichts fehlt?«
Sie öffnete die Augen und sah, dass Pete sie beobachtete. Er hatte am Straßenrand gehalten, und Cass brauchte nicht hinauszusehen, um zu wissen, wo sie waren. Ihre Hand tastete nach links, sie zog an dem Griff, um die Tür zu öffnen, und dann stand sie in der frischen Luft und blickte auf die Hexensteine hinunter.
Eine halbe Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit sie zuletzt an diesem Ort gewesen war. Cass glaubte zu wissen, dass Sally genau an diesem Punkt als Hilfesuchende aus dem Nebel aufgetaucht war – unweit der Stelle, an der sogar die Straße selbst versucht hatte, Ben und sie von dem abzuhalten, was sie in Darnshaw erwartete.
Inzwischen hatte auch hier oben Tauwetter eingesetzt. Im Moor waren zwischen grünschwarzem nassen Heidekraut Stellen mit winterbraunen Farnen zu sehen. Von diesem Aussichtspunkt aus konnte Cass das Moor erstmals deutlich sehen. Ihre Haut kribbelte wieder wie damals, als Remick sie zum ersten Mal berührt hatte. Sie spürte Flammen, die ihre Nervenbahnen entlangliefen, und den kalten Schauder, als er ihr Herz anrührte. Sie zitterte leicht. Die Narbe auf ihrer Handfläche pochte. Cassballte die Hand zur Faust und drückte so fest zu, dass sie fast erwartete, Blut werde herausquellen und ins nasse Gras tropfen.
Du bist fort und dein Buch mit dir.
Aus dieser Perspektive wirkten die Hexensteine weit weniger prominent. Sie standen klein und unbedeutend am Ufer eines Moorsees, der kaum mehr als ein großer Tümpel war.
Sie spürte Petes Hand auf ihrer Schulter.
Er war immer schlecht für dich.
Sie schüttelte sie ab.
»Cass?« Seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen.
Ihr Vater hatte recht gehabt. Er hatte immer recht. Er war im Begriff gewesen, sie zu retten, sich für sie zu opfern, und Pete hatte ihn daran gehindert.
»Cass?«
Sie öffnete ihre Hand, um nochmals die Handfläche zu betrachten. Die Narbe war schon blasser als zuvor, verschwand fast zwischen den Handlinien. »Ich weiß nicht, ob er wirklich fort ist«, sagte sie. »Mir kommt’s vor, als wäre er noch da.«
Petes Hand berührte ihren Nacken. »Ich weiß, wie dir zumute ist, Cass. Dein Vater war ein guter Mann. Mir tut’s leid, dass er nicht mehr da ist. Aber darüber kommst du im Lauf der Zeit hinweg.«
Cass drehte sich zu ihm um und bemühte sich, die Verachtung in ihrem Blick zu verbergen. Glaubte er wirklich, sie habe von ihrem Vater gesprochen? Er verstand nichts … aber ohne Jahre voller Worte in seinen Ohren, ohne die Ermahnungen, den Unterricht, die Bibellesungen und die auf harten Kirchenbänken verbrachten Sonntagvormittage konnte er niemals verstehen.
Die schwere Hand, die ihr Leben lang auf ihrer Stirn gelegen hatte.
»Glaubst du, dass ich frei bin?«, fragte sie unerwartet laut. »Glaubst du, dass meine Seele frei ist, Pete?«
Das war nur halb als Frage gedacht, aber er fuhr sich mit derZungenspitze über die Lippen und antwortete. »Er ist tot, Cass. Er und sein Buch, die sind beide fort. Was immer du glaubst getan zu haben, was immer du ihm gegeben hast, ist nicht mehr wichtig.«
Was immer du ihm gegeben hast . In Petes Stimme schwang ein Unterton mit, als er das sagte, und Cass wusste, was er meinte. Der Schmerz in seinem Blick war Eifersucht. Er fing bereits an, sich aus lauter falschen Gründen an lauter falsche Dinge zu erinnern.
Er wird dir Ben wegnehmen.
Ihr Vater hatte recht gehabt: Pete war schlecht für sie. Ihr Vater hatte immer recht gehabt, nur in einem einzigen Punkt nicht. Cass bewegte die Hand, beobachtete, wie die Narbe sich dabei veränderte, und dachte daran, wie ihr Vater ihr schmutziges Kleid betrachtet und dabei auch sie begutachtet hatte. Sie hatte stets geglaubt, seinen Ansprüchen nicht zu genügen, und das hatte sie wohl auch nicht getan. Aber er hatte ihr vertraut. Ihr Vater hatte geglaubt, sie werde stark genug sein.
»Komm«, sagte sie und berührte Petes Arm. »Wir wollen weiter.
Er ist tot. Das alles ist nicht mehr
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