Winters Knochen
weiß nicht, wo er ist, und ich werd auch nicht rumlaufen und nach ihm fragen.«
Ree wusste, dass sie kein Wort mehr verlieren sollte, wollte trotzdem noch etwas sagen. Doch Victoria nahm ihre Hand, drückte sie und fragte dann: »Also, wann, hast du gesagt, bist du alt genug, um zur Army zu gehen?«
»Nächsten Geburtstag.«
»Dann gehst du wirklich weg von hier?«
»Ich hoffe.«
»Gut für dich. Aber was machen denn dann die Jungs und …«
Teardrop sprang auf, packte Ree an den Haaren und riss ihren Kopf so weit zurück, dass ihre Kehle entblößt wurde und ihr Gesicht nach oben schaute. Er bohrte seinen Blick in ihre Augen, wie eine Schlange in ein Loch drang, ließ sie spüren, wie er ihr in Herz und Eingeweide fuhr, ließ sie zittern. Dann riss er ihren Kopf herum, drückte ihr mit der Hand die Luftröhre zu und hielt sie fest. Er brachte sein Gesicht von oben nah an das ihre, rieb seine geschmolzene Hälfte an ihrer Wange, auf undab, auf und ab, dann brachte er seine Lippen an ihre Stirn, gab ihr einen Kuss und ließ sie los. Er nahm den Beutel mit dem Meth vom Tisch, hielt ihn ins Licht, das aus der Dachluke kam, schüttelte ihn und besah sich eingehend das sich verschiebende Pulver. Dann trug er den Beutel ins Schlafzimmer. Victoria bedeutete Ree, sie solle still sitzen bleiben, und folgte ihm langsam. Sie machte die Tür hinter sich zu und flüsterte etwas. Langsam entspann sich ein Gespräch zwischen zwei Stimmen, erst ruhig und besonnen, doch bald schon war nur noch eine Stimme zu hören, die laut und durchdringend war. Durch die Wände konnte Ree nichts verstehen. Es wurde still, was noch ungemütlicher war als das Zischen der Stimmen. Victoria kam mit gesenktem Kopf zurück und putzte sich mit einem blassblauen Papiertaschentuch die Nase.
»Teardrop meint, du solltest deinen Arsch lieber bedeckt halten, Schätzchen.« Sie ließ fünfzig Dollar in Zehnern auf den Tisch fallen und fächerte die Scheine auf. »Er hofft, das hilft. Soll ich dir für den Heimweg einen Joint drehen?«
REE MACHTE ÖFTER PAUSE und besah sich Dinge, die normalerweise nicht von Belang waren. Sie sog die Luft ein, als hätte diese irgendwie einen anderen Geschmack angenommen, und betrachtete den kleinen Steinwall vor dem Haus. Sie berührte die Steine, hob ein paar davon an, hielt sie sich vors Gesicht, entdeckte einen Hasen, der nicht weglief, bis sie darüber lachen musste, roch Victoria an ihren Ärmeln und kletterte dann auf einen Baumstumpf, um nachzudenken. Sie zog sich ihren Rock eng über die Knie und schob den Rockzipfel unter die Beine. Diese Steine waren wahrscheinlich von ihren Vorfahren dort aufgehäuft worden. Eine ganze Weile lang versuchte sie sich deren Pionierleben vorzustellen und darüber nachzudenken, ob sich Teile jenes Lebens auch in ihrem wiederfanden. Mit geschlossenen Augen konnte sie sie zu sich rufen, konnte all die alten Dollys sehen, deren Knochen nach der Reihe brachen und verheilten, wieder brachen und falsch zusammenwuchsen, sodass sie Jahr um Jahr auf ihren schlecht verheilten Knochen umherhumpeln mussten, bis sie eines Abends tot umfielen wegen etwas, das in ihren Lungen rasselte. Zwischen den Nächten, in denen sie sich austobten, und der Zeit, die sie im Knast verbrachten, lagen die Männer auf der faulen Haut oder brannten Schnaps, den sie gleich wegsoffen. Sie hattenabgekaute Ohren, abgehackte Finger, zerschossene Arme, und sie entschuldigten sich niemals für irgendwas. Die Frauen waren größer, hatten einsam blickende Augen und unansehnliche gelbe Zähne, den Mund stets zusammengekniffen, um ein Lächeln zu vermeiden. Ihre Hände waren rau wie trockene Maiskolben, die Lippen den ganzen Winter über aufgeplatzt. Ein weißes Kleid für die Hochzeit, ein schwarzes für die Beerdigung. Ree nickte. Ja, so war es.
Der Himmel war dunkel und hing tief, ein Habicht, der über ihr kreiste, tauchte gleich wieder auf, nachdem er in den Wolken verschwunden war. Der Wind schlug ihr die Kapuze vom Kopf. Der Habicht, der auf dem böigen Wind segelte, suchte nach Beute. Er wollte etwas fangen, es zerfetzen, die leckeren Teile fressen und die Knochen fallen lassen.
Dad konnte sonst wo sein.
Er glaubte wahrscheinlich, Gründe dafür zu haben, sich irgendwo herumzutreiben oder irgendwas zu tun, auch wenn die Gründe am nächsten Morgen lächerlich wirkten.
Eines Nachts, Ree war noch eine kleine Göre gewesen, hatte sich Dad mit Buster Leroy Dolly angelegt, der ihm draußen am Twin Forks River in
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