Winters Knochen
die Brust schoss. Dad war auf Meth gewesen, wie unter Strom. Er konnte sich gar nicht mehr einkriegen, angeschossen worden zu sein, und statt zu einem Arzt zu gehen, fuhr er dreißig Meilen nach West Table in eine Bar, um seinen Kumpels die tolle Schusswunde mit dem heraussickernden Blut zuzeigen. Er brach grinsend zusammen, und die Besoffenen trugen ihn ins Gemeindekrankenhaus. Keiner glaubte, dass er den nächsten Tag noch erleben würde, doch das tat er.
Dad war zäh, aber mit der Vorausschau hatte er es nicht so. Mit achtzehn hatte er die Ozarks verlassen und wollte für richtig viel Geld auf den Ölfeldern in Louisiana arbeiten, doch am Ende landete er in Texas und boxte für ein paar Kröten gegen Mexikaner. Er schlug sie nieder, sie schlugen ihn nieder, alle bluteten, keiner wurde reich. Drei Jahre später kehrte er ins Tal zurück mit nichts als frischen Narben rings um die Augen und ein paar Geschichten, über die die Männer eine Weile grinsten.
Dad konnte sonst wo sein, mit sonst wem.
Ree war schon zwölf, als sich Moms Verstand losriss und im hohen Gras verstreute. Etwa um die Zeit erfuhr sie auch von Dads Freundin. Sie hieß Dunahew und arbeitete in einem Kindergarten in Reid’s Gap, jenseits der Grenze zu Arkansas. Ihr Vorname war April, und besonders sah sie nicht aus, aber sie hatte so eine nette, feiste Art und ein regelmäßiges Einkommen. Ree war einmal nach Reid’s Gap gebracht und dort fast eine Woche zurückgelassen worden, um April zu helfen, die es am Magen hatte. Das war zwei Jahre her. Ree hatte ihren Dad seitdem nie wieder Aprils Namen sagen hören und sie auch nicht mehr an seiner Kleidung gerochen. April hatte ein hübsches gelbes Haus gleich neben der Hauptstraße dort unten, und Dad konnte sonst wo sein.
AUF HALBER STRECKE zwischen Onkel Teardrops Haus und ihrem bog Ree nach Westen ab, erklomm einen schneebedeckten Grat und überquerte ein weißes Feld. Die Langans hatten einen einfachen hellbraunen Trailer, der auf einer betonierten Fläche hinter ihrer Schrottscheune stand. Die Scheune war aus Holz, vom generationenlangen Wetter ausgemergelt, grau und windschief. Vorne neigte sie sich in die eine Richtung, hinten in die andere. Irgendwelcher Schrott, der wohl nie wieder von Nutzen sein würde, landete zunächst in der Scheune und wurde dann vergessen. Der Wohnwagen hatte eine Terrasse, von der aus die Männer an die Scheune pinkelten. An der Stelle zeichnete sich ein kleiner, ausgefranster Schatten ab.
Rees beste Freundin Gail Lockrum war durch ihre Schwangerschaft gezwungen gewesen, Floyd Langan zu heiraten, und lebte nun in dem hellbraunen Trailer neben dem seiner Eltern. Gail und Ree waren Freundinnen, seit dem Klassenausflug in der zweiten Klasse, als sie unter einem Picknicktisch bei Mammoth Spring mit den Köpfen zusammenstießen, weil sie demselben Frosch hinterherjagten, aufstanden, um sich ihre Beulen zu reiben, und sofort Gefallen aneinander fanden. Seitdem hatten sie die freien Stunden der vergangenen Jahre damit verbracht, Kleider und Träume zu teilen und ihre Meinung über alleanderen auszutauschen. Gail hatte ein vier Monate altes Baby namens Ned und einen neuen Gesichtsausdruck von verwirrtem Schmerz, die Traurigkeit der Zurückgelassenen, so als würde sie sehen, wie sich die große Welt weiterdrehte, weiter und weiter, während sie über Nacht auf ihrem Fleck kleben geblieben war.
Als Ree auf die Terrasse trat, hörte sie Ned weinen. Sie blieb einen Augenblick im Schnee stehen, hielt an der Tür inne, dann klopfte sie. Die Fußstütze eines Fernsehsessels klappte geräuschvoll zurück, leises Murmeln. Die Tür schien zugefroren zu sein und musste aufgedrückt werden, dann stand Gail mit Ned auf dem Arm da und sagte: »Gott sei Dank, du bist’s, Liebes, und nicht schon wieder Floyds blöde Eltern. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem sie mich einmal nicht bespitzeln.«
»Kannst du wegen den beiden nicht mal still sein?« rief Floyd aus dem Inneren des Trailers. »Halt doch einfach mal die Luft an. Schließlich haben sie dir ein Dach überm Kopf gegeben, oder etwa nicht?«
Ree lächelte und streckte die Hand aus, um Ned in die Wange zu kneifen, zuckte dann aber vor dem fleckigen Gesicht zurück, das da schrie, und ließ die Hand sinken. Sie betrachtete dieses Babygesicht, das ganz verzerrt war von all den Dingen, um die zu schreien es geboren war, wohl aber niemals wirklich benennen oder sein eigen nennen könnte, und sagte: »Bittest du mich rein, oder soll
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