Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Schwertschneide.
»Er ist ganz vernarrt in Kennets zahmes Halbblut. Erfüll ihm die Bitte! Vielleicht gibt er dann eine Weile Ruhe. Und was kann es schon schaden, wenn er mit Inurian spricht?«
Wenn Inurian sich ins Reich des Geistes zurückzog, konnte er Frieden finden. Er stemmte sich gegen die Sinneseindrücke, die auf ihn einströmten, unterbrach bewusst die Verbindung zur Welt ringsum und ließ sich durch tiefe Schichten des Schweigens und der Dunkelheit sinken. Er löste sich in der Geistgemeinschaft auf. Es war ein Zustand, den man bestenfalls einem anderen Na’kyrim begreiflich machen konnte und den selbst unter seinesgleichen nur wenige erreichten. Die Zeit verlor ihre Bedeutung in den Abgründen des Gemeinsamen Ortes, und der Geist erfuhr Trost. Es war eine Ruhepause, die ihn die Gefangenschaft in Anduran leichter ertragen ließ.
In der fünften Nacht seines Kerkeraufenthaltes streckte er sich auf dem Boden aus. Er verdrängte das Bewusstsein an den kalten, harten Stein. Er sperrte die rauen Stimmen aus, die vom Hof hereindrangen, und das murmelnde Regenwasser, das die Zellenwände entlanglief. Sein Atem wurde flach und nahm den gleichmäßigen Rhythmus der Trance an. Seine Gedanken blieben zurück wie kleine Wirbel im Kielwasser eines Schiffes. Sein Geist verdünnte sich zu Rauch. Er war Tausende, Abertausende. Er war Huanin, Kyrinin, heitere Saolin. Er genoss den schnellen Lauf der Kyrinin-Jäger, fühlte das vernarrte Staunen jeder Huanin-Mutter beim Betrachten ihres Kindes und die hingebungsvolle Freude der Saolin während des Gestaltwandelns.
Selbst die Whreinin hatten ihre Spuren in der Endlosigkeit des Gemeinsamen Ortes hinterlassen. Obwohl die Wolfsrasse seit Langem ausgestorben war, hatte sie einst die Welt durchstreift; die Gemeinschaft des Geistes vergäße das nie. Er spürte die wilde Grausamkeit der Wölfe, die letztlich die Befleckten Rassen dazu bewogen hatte, sie auszurotten, aber er spürte sie, ohne zu richten. Am Gemeinsamen Ort gab es weder Gut noch Böse, weder Recht noch Unrecht. Es gab nur Sein oder die Erinnerung daran.
Einzig die Anain blieben ihm unbegreiflich. Sie waren da, wie alle übrigen – unermesslich und grenzenlos –, aber so völlig anders geartet, dass sie ein Na’kyrim weder verstehen noch erfühlen konnte.
Inurian zerrann, löste sich in der formlosen Einheit jenseits des Denkens und Lebens auf. Er war schon so oft auf diese Weise in die Gemeinschaft des Geistes eingetaucht, aber diesmal spürte er ein Hindernis. Etwas zerrte an seinem Bewusstsein, störte die befreiende Vereinigung. Es war, als hätten sich die letzten dünnen Fransen seines Geistes irgendwo verhakt und kämen nicht mehr los. Einen Moment lang kämpfte er gegen diese Reste seines Ichs an. Der Knoten verstärkte sich. Das Gefühl, dass sich seine Gedanken zusammenballten, war beinahe körperlich. Es schmerzte Inurian, dass ihm die Befreiung versagt blieb. Als er ins Bewusstsein auftauchte, spürte er, wie das Hindernis, das seinen Rückzug unterbunden hatte, näher kam – ein ungestümer Schatten, der sich über ihn warf und ihn mit dem scharfen Gestank von Fäulnis umhüllte. Wie ein Tropfen, der auf die stille Oberfläche eines Teiches fiel, hatte etwas die Vollkommenheit des Gemeinsamen Ortes verdorben.
Er öffnete die Augen und sah, dass Aeglyss vor ihm stand.
»Ich weiß nicht genau, wohin Ihr Euch begeben hattet, aber ich würde gern lernen, wie Ihr das bewerkstelligt«, raunte Aeglyss. Ein schwaches Lächeln umspielte seine blassen, schmalen Lippen.
Inurian erhob sich und beugte das rechte Knie, bis es nicht mehr sperrte. Der anstrengende Marsch durch Anlane und diese elende, nasskalte Zelle hatten das Gelenk an einen lange zurückliegenden Sturz auf den steinigen Hängen des Car Anagais erinnert. Er bemühte sich, sein Erstaunen und das zugleich aufkeimende Entsetzen zu verbergen, und erwiderte den Blick seines Besuchers betont gleichgültig. Es war klar, dass nur Aeglyss die Quelle der Turbulenzen am Gemeinsamen Ort sein konnte; was das über die potenzielle Stärke des Mannes aussagte, trieb einen Stachel der Angst in Inurians Herz.
Aeglyss blieb beharrlich. »Können wir uns denn nicht einmal unterhalten? Ich will doch nur von Euch lernen. Ich brauche Eure Hilfe – Eure Führung –, um die Kraft zu beherrschen, die ich in mir spüre.«
Er trat noch einen Schritt näher auf Inurian zu. »Unsere Ziele laufen in die gleiche Richtung. Diese Leute hier hätten Euch längst
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