Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Man musste ihm folgen. Ein Entrinnen gab es nicht.
Immerhin schlossen sich die Inkallim unter Führung von Shraeve dem Heer an. Kanin hatte sie nicht zum Mitkommen aufgefordert. Wie gewohnt war diese Entscheidung von den Inkallim selbst getroffen worden. Aber sie hatten sich vor dem Aufbruch noch einmal die Haare gefärbt, glänzend schwarz wie frisches Pech. Das konnte bedeuten, dass sie an der Schlacht teilnehmen würden.
Unter einer schweren Wolkendecke und bei sachtem Regen zogen sie an Grive vorbei. Die Ortschaft wirkte verlassen. Kein Rauch stieg aus den Kaminen auf, die Straßen waren leer und die Fenster fest verschlossen. Die meisten Bewohner hatten die Flucht ergriffen. Der Rest hielt sich irgendwo versteckt. Das Land war flach, durchzogen von schmalen Gräben, gesprenkelt mit kleinen Weiden- und Erlengehölzen. Im Stich gelassene Kühe muhten verzweifelt. Kanin stellte einige Krieger dafür ab, sie einzufangen und nach Anduran zurückzutreiben. Eine Schar Krähen, Milane und Bussarde kreiste über einem unsichtbaren Kadaver. Ihr werdet bald mehr als genug Aas zu fressen finden, dachte Kanin.
Sie hatten Grive noch nicht lange hinter sich gelassen, als Kanins Kundschafter zurückkehrten. Sie berichteten, dass der Feind einige Stunden entfernt am Südrand der Glas-Auen entlangzog. Kanin fand eine Stelle, wo jeder Angriff auf seine Linien über den sumpfigen, schweren Boden einer weiten Grasebene erfolgen musste, und stellte sein Heer auf. Gräben im Norden und Süden würden jeglichen Versuch, seine Truppen zu zersplittern, zunichte machen. So grausam und mörderisch ein unmittelbares, schnörkelloses Aufeinanderprallen der beiden Heere auch sein mochte, es schien ihm die einzige Möglichkeit zu bieten, den Sieg zu erringen. Die etwa zweihundert Mann seiner Reiterei bildeten zusammen mit seiner Leibgarde die Nachhut. Die Inkallim verteilten sich zu seiner Rechten, hinter der Hauptlinie, und kauerten geduckt im Gras. Kanin beachtete sie nicht weiter. Er fand es unter seiner Würde, Shraeve zu fragen, was sie mit diesem Manöver beabsichtigte.
Für eine Attacke hatte der Titelerbe einfach nicht genug Reiter. Zu viele der Pferde, die er von Hakkan mitgenommen hatte, waren unterwegs eingegangen oder mussten in den Wäldern von Anlane geschlachtet werden, um den Hunger der Truppen zu lindern. Er konnte nur abwarten und hoffen, dass Speere, Mut und der morastige Boden ausreichen würden, um den gegnerischen Angriff abzuwehren, der ihnen mit Sicherheit bevorstand. Wenn es Aeglyss irgendwie gelang, einige der Schleiereulen zum Kampf zu überreden, war das vielleicht eine kleine Hilfe, aber Kanin hatte sich bereits mehr oder weniger mit einem Scheitern des Halbbluts abgefunden. Aeglyss war jetzt seit gut einem Tag fort, und die Zeit wurde allmählich knapp. Das überraschte ihn nicht weiter. Auch wenn sich der Na’kyrim noch so gut darauf verstand, andere Geschöpfe mit dem Zauber seiner Stimme zu überreden oder zu täuschen, Kanin hatte nicht wirklich daran geglaubt, dass es ihm gelänge, die Waldelfen ein zweites Mal in die Dienste des Schwarzen Pfads zu locken. Dennoch hatte er sich mit geradezu peinlichem Überschwang bereit erklärt, den Versuch zu wagen. Das Bemühen des Halbbluts, sich bei ihm einzuschmeicheln und unentbehrlich zu machen, war bemitleidenswert.
Am Horizont zu seiner Rechten sah er eine dunkle Masse über die Niederungen der Glas-Auen aufragen. Das konnte nur Kan Avor sein, die versunkene Stadt, einst der Sitz des Gyre-Geschlechts, die nun aus der unerreichbaren Ferne wie eine schmachtende Geliebte das Herz eines jeden Nordländers zu rühren versuchte. Es schien ihm angemessen, das Schicksal hier herauszufordern, in Sichtweite der gebeugten und gebrochenen Türme. Und so nahe an Grive, der Heimat von Tegric, dessen hundert Mann das Tal der Steine einen Tag lang gegen sämtliche Kilkry-Stämme gehalten hatte – bis die Angehörigen des Schwarzen Pfads in den Norden entkommen waren. Auch wenn sich heute die Inkallim als die Kinder der Hundert bezeichneten, konnte jeder Krieger sich an Tegric ein Beispiel nehmen. Hier wollte Kanin den Feind erwarten.
Weit von Anduran entfernt, jenseits der schwindelerregenden Gipfel und talwärts wogenden Gletschermassen, fielen feine Flocken auf die Hänge um Burg Hakkan. In dieser Nacht hatte sich zum ersten Mal seit einer Woche der schneidende Nordwind gelegt, und der Morgenschnee blieb auf dem hart gefrorenen Boden der Ländereien von Horin-Gyre
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