Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
getötet, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn ich nicht seit unserer Ankunft hier Fürsprache für Euch eingelegt hätte.«
»Das ist eine Lüge«, erklärte Inurian ruhig.
»Ah, dann seid Ihr neugierig genug, um in meinem Kopf herumzuwühlen? Was seht Ihr darin? Ich könnte Euch aussperren – wie ich es in Kolglas tat. Aber das ist nicht nötig. Ihr müsst inzwischen wissen, dass ich Euch nicht schaden will.«
»Ich brauche den Gemeinsamen Ort nicht, um in Erfahrung zu bringen, dass Ihr nicht mein Freund seid«, entgegnete Inurian. Das stimmte nur teilweise. Aber er war nicht bereit, auch nur anzudeuten, welche beunruhigenden Dinge er im Innern des Jüngeren spürte. Aeglyss war so erfüllt von brodelndem Zorn und Hass, dass Inurian diese Gefühle fast mit Händen greifen konnte.
»Dann benutzt mich eben, wenn Ihr meine Freundschaft ausschlagt!«, fauchte Aeglyss. »Ich erhoffte mir viel von Euch, aber ich hätte es besser wissen müssen. Die Na’kyrim verachten mich ebenso wie die Angehörigen der anderen Rassen. Warum solltet Ihr eine Ausnahme bilden?«
Ein wilder Schmerz flackerte unvermittelt in Aeglyss auf, und Inurian musste seine ganze Willenskraft aufbringen, um nicht zusammenzuzucken. Das also verbarg sich unter all den heftigen Emotionen, die in Aeglyss brannten: eine tief verwurzelte Kränkung, die ihn bitter und einsam machte.
»Helft mir, und ich helfe Euch!«, beschwor ihn Aeglyss. »Ich kann Euch nicht zwingen – ich weiß, dass ich dazu nicht die Kraft besitze, noch nicht –, aber wenn Ihr mir helft, meine Fähigkeiten zu verstehen, wird Euch das ebenso von Nutzen sein wie mir. Ich weiß, dass ich in der Gemeinschaft des Geistes Taten vollbringen kann, die seit vielen Jahren niemand mehr vollbrachte. Ich weiß es!«
Inurian musterte sein Gegenüber. Fast hatte er Mitleid mit dem jungen Mann. Fast.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann Euch nicht helfen.«
Da loderte ein entsetzlicher Zorn in Aeglyss’ grauen Augen auf. Inurian musste den Blick abwenden. Als er sich zwang, den anderen wieder anzusehen, war der Zorn verschwunden.
»Vielleicht können wir ein anderes Mal darüber reden«, sagte Aeglyss.
Er ging und versperrte die Tür hinter sich.
Als der Tag eine bis zwei Stunden alt war, strömten die Kinder der Hundert auf Andurans Marktplatz zusammen. Kanin stellte eine Truppe von Horin-Gyre-Kriegern zusammen, die südwärts durch das Tal ziehen sollte. Anduran selbst war zwar schnell gefallen, aber auf dem Land gab es immer wieder aufflackernden Widerstand, der ihm Sorgen bereitete. Soeben trafen die Überlebenden eines Gefechts bei Targlas, auf halbem Wege zwischen Anduran und Tanwrye, in mehreren kleinen Gruppen ein. Sie hatten gesiegt und vermutlich den Widerstand der Stadtbewohner gebrochen, aber dreißig Krieger waren gefallen – ein Verlust, den Kanin sich kaum leisten konnte.
Bereits schlecht gestimmt, beobachtete er, wie die Inkallim ihre Stellungen einnahmen, um sich im Nahkampf zu üben. Jeden Morgen spulten sie dieses ausführliche, beinahe rituelle Programm unter den gestrengen Blicken ihrer Anführerin Shraeve ab.
Aufmerksam und reglos stand sie da, sobald die ersten Klingen aufeinanderklirrten. Sie war eine kraftvolle Frau, schlank und hochgewachsen. Das lange Haar, das sie wie alle Inkallim schwarz färbte, hatte sie im Nacken zusammengebunden. Zwei Schwerter waren mit überkreuzten Riemen an ihrem Rücken befestigt. Noch nie hatte Kanin erlebt, dass sie eine der Waffen zog, aber er wusste, dass sie eine todbringende Gegnerin war. Anderen den Tod zu bringen, war der einzige Zweck der Krieger-Inkall. Obwohl von den gut hundert Kämpfern, die sich dem langen Marsch durch Anlane angeschlossen hatten, nur noch etwa achtzig am Leben waren – ein Dutzend Jäger-Inkallim war ebenfalls mitgekommen, aber ihre Aufgaben lagen nicht auf dem Schlachtfeld –, ersetzten diese achtzig mindestens zweihundert gewöhnliche Krieger, wahrscheinlich aber noch mehr. Allerdings hörten sie nur auf Shraeves Kommando. Kanin konnte ihnen nicht vorschreiben, wann und wo sie ihr Kampfgeschick einsetzen sollten, so wenig, wie er den Wolken befehlen konnte, über den Himmel zu ziehen. Er hätte es auch nicht versucht, weil er ihnen und ihrer Ergebenheit ihm gegenüber noch stärker misstraute als der längst ausgestorbenen Wolfsrasse.
Wain legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er schob seine düsteren Gedanken beiseite.
»Komm weg von hier!«, sagte sie. »Wir bekommen bald selbst
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