Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
liegen.
Raureif knirschte unter seinen Füßen, als Ragnor oc Gyre, Hoch-Than aller Geschlechter vom Schwarzen Pfad, dem Eingang der Katakomben zustrebte. Der Saum seines Zobel-Umhangs streifte den Boden und wirbelte die dünne Schneeschicht auf, als fege ein Besen Staub zu Pirouetten. In seinem Gefolge befand sich der Haushalt von Angain oc Horin-Gyre. Die Schildwache des verstorbenen Thans, die den in Tücher gewickelten Toten auf den Schultern trug, ging in der Mitte des Trauerzugs. Man hörte nichts außer den Schritten und den Glocken, die von der tiefer gelegenen Feste und den zerklüfteten Felshängen ringsum ertönten. Die tief hängenden, flachen Wolken fingen die Glockenklänge im Tal ein und warfen das Echo hin und her, bis die Luft selbst zu vibrieren schien.
Der Hoch-Than erklomm den steilen Weg zum Stolleneingang, der ihm entgegengähnte wie der Unterschlupf eines riesigen Berggeschöpfs. Fackeln brannten im Innern und erhellten den Tunnel zur Grabkammer, in der Angain seine letzte Ruhe an der Seite derer finden sollte, die diesen Weg vor ihm zurückgelegt hatten. Ragnor hielt inne und wartete seitlich des Eingangs, während sich die Leichenträger aus dem Zug lösten und in den Berg vordrangen. Angains Gemahlin Vana, in den Hermelinpelz gehüllt, der nur Witwen zustand, folgte ihnen. Sie schritt mit gesenktem Blick am Hoch-Than vorbei. Der älteste Jagdhund ihres Gemahls – ein graues Tier, das während seiner letzten Tage treu am Fußende seines Krankenlagers gewacht hatte – begleitete sie. Er bewegte sich müde und schwerfällig.
Eine weiter Gestalt betrat den Tunnel zu den Katakomben, vermummt mit einer weiten grauen Kutte und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Es war Theor, der Führer der Barden-Inkall. Nichts unterschied sein Gewand von der Tracht der niedrigsten Inkallim in den Entstehungsjahren des Glaubens. Nichts deutete darauf hin, dass die Macht, über die er verfügte, in gewisser Weise ebenso groß war wie die des Hoch-Thans.
Die übrigen Mitglieder von Angains Haushalts blieben ein Stück entfernt von Ragnor stehen. Die Schneeflocken fielen dichter. Niemand sprach. Das feierliche Glockengeläut nahm kein Ende. Ragnor wartete.
Angains Schildwache kehrte zurück, nachdem sie ihre letzte Pflicht erfüllt hatte. Bald darauf tauchten auch Vana und Theor auf. Gemessenen Schritts kamen sie den Tunnel herauf und löschten die Wandfackeln hinter sich. Während sie sich dem Licht des Ausgangs näherten, ergriff das Dunkel abermals Besitz von den Katakomben und umfing den toten Than. Ragnor verneigte sich, als Vara auf ihn zukam, und streckte ihr die Hand entgegen. Ihre Fingerspitzen berührten sich. Der Hund an ihrer Seite schaute mit stumpfem Blick zu Ragnor auf.
»Er ruht in Frieden, Mylady«, sagte der Hoch-Than. »Ein glücklicher Mann, der diese unwirtliche Welt hinter sich lässt.«
Er hielt die Augen gesenkt. Vor vielen Jahren, als sie noch frei war, hatte er versucht, diese Frau für sich zu gewinnen. Sie war ein strahlend schönes, aber hochmütiges Mädchen gewesen, und sie hatte ihn abgewiesen. Das hatte Mut erfordert, da er in jenen Tagen für seinen Jähzorn berüchtigt gewesen war. Jetzt betrachtete er ihren Handrücken und wunderte sich, wie schmal und alt ihre Hand in der seinen lag.
»Wahrlich, ein glücklicher Mann«, entgegnete sie. »Wir werden uns wiedersehen. Darauf freue ich mich.« Ihre Stimme war nicht so welk wie ihre Hand. Das stolze Mädchen, an das sich Ragnor erinnerte, steckte immer noch in ihr. Sie trat zu den anderen, die sich um sie scharten.
Der Führer der Barden-Inkall blieb neben Ragnor stehen. Sie beobachteten, wie Gebäck und kleine Becher mit Kornschnaps herumgereicht wurden. Gesprächsfetzen drangen zu ihnen herüber, hier und da ein leises Lachen. Man würde Vana nun Geschichten aus dem ersten Leben ihres Gemahls erzählen und die besten Wünsche für sein zweites Leben zum Ausdruck bringen. Der Tod war in den Ländern des Schwarzen Pfads kein Anlass für allzu große Trauer. Ringsum verstummten die Glocken, eine nach der anderen.
Theor schlug die Kapuze seiner Kutte zurück. Sein Haar hatte einen verblüffend silbrigen Schimmer. Die Lippen unter dem kurzen Bart waren vom jahrelangen Kauen der Seherwurz dunkel verfärbt. Die Haut hatte ihre Jugend längst vergessen und hing in schlaffen Falten von den Wangenknochen. Nur die Augen besaßen eine Leuchtkraft, die auch zu einem dreißig Jahre jüngeren Gesicht gepasst hätte. Das Ächzen eines
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