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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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Bogenschuss von der Stadt entfernt blieben.
    Wain teilte die Verachtung ihres Bruders für alle Na’kyrim . Ihre bloße Existenz zeugte von jener mutwilligen Missachtung der natürlichen Weltordnung, die dazu geführt hatte, dass sich die Götter von der Menschheit abwandten. Dennoch konnte sie sich nicht von dem Gefühl frei machen, dass Aeglyss etwas Besonderes war. Er hatte seinen Wert inzwischen mehr als einmal bewiesen. Auch wenn Kanin sich weigerte, dem zuzustimmen – das Schicksal nutzte mitunter die seltsamsten Werkzeuge, um seine Pläne zu schmieden.
    Sie fand das Katapult auf der Straße vor dem Gefängnis, unförmig und hilflos wie ein gestrandetes Seeungeheuer. Eine der Achsen war gebrochen. Als die Männer, die den Schaden zu beheben versuchten, Wain näher kommen sahen, beugten sie sich eifrig über ihre Arbeit, und jeder versuchte den anderen an Fleiß zu überbieten. Eine ganze Weile beobachtete sie, wie sich die Leute abmühten. Der Anführer der Gruppe warf ihr immer wieder ängstliche Blicke zu. Alle spannten den Rücken in Erwartung ihres Zornausbruchs an. Aber er kam nicht. Sie hatte den Glauben an die Wirksamkeit der Belagerungsmaschinen verloren. Nach einer Weile überließ sie die Männer ihrer Plackerei und ging weiter.
    Sie erreichte die äußere Stadtmauer, erklomm die altersschwachen Verteidigungsanlagen und ließ die Blicke über die Felder zu den Zelten und Feuern der Kyrinin schweifen. Im Lager herrschte die gewohnte Stille. Eine Zeit lang stand sie einfach da, ohne recht zu wissen, wonach sie Ausschau hielt. Es war alles wie immer.
    Sie betrachtete die Steine unter ihren Füßen. Die mächtigen Blöcke, die einst die Stadt – fest gefügt wie die Schuppen eines Panzers – umhüllt hatten, waren nun zu losen Brocken verwittert und zerfallen. Noch wenige Jahrhunderte, und sie hatten sich vollends in Staub verwandelt. Die Zeit und die Vorsehung nahmen keine Rücksicht auf die Absichten gewöhnlicher Sterblicher.
    »Wain!«
    Als sie die leise Stimme neben ihrer Schulter hörte, fuhr sie zusammen. Um ein Haar hätte sie das Gleichgewicht auf dem Steinhaufen verloren. Im nächsten Augenblick ergriff er ihren Ellbogen und stützte sie. Mit einer heftigen Geste riss sie sich los.
    »Fasst mich nicht an, Halbblut!«, zischte sie.
    »Wie Ihr wollt«, erwiderte Aeglyss gleichmütig. Seine Blicke wanderten zu den Zelten der Schleiereulen. »Ihr beobachtet das Lager. Was seht Ihr?«
    »Barbaren.« Seine Nähe verursachte ihr eine Gänsehaut.
    »Sie würden das Gleiche von Euch behaupten. Aber es ist falsch, nur das aufzunehmen, was ins Auge springt.«
    Sie spürte den starken Drang, sich von ihm abzuwenden, von seinen grauen Augen und seiner leichenfahlen Haut. Aber seine Stimme hielt sie fest.
    »Weshalb weist Ihr und Euer Bruder mich ab?« Seine Hand lag wieder auf ihrem Arm, und diesmal ließ sie es geschehen. »Ich will Euch doch nur helfen, das zu erreichen, was Ihr so sehnlich erstrebt.«
    »Was erstrebe ich denn Eurer Meinung nach so sehnlich?«, fragte sie mit belegter Stimme.
    »Ihr habt die gleichen Ziele wie Euer Vater und Euer Bruder: Rache für die Niederlagen der Vergangenheit, den Siegeszug des Schwarzen Pfads, Ehre für Euer Geblüt. Das Ende dieser Welt. Den Kall. Aber in Euch brennt das Verlangen stärker als in ihnen, Wain. Ich spüre es in Euch, als trüget Ihr die Sonne selbst in der Brust.«
    Vorsichtig trat sie einen Schritt zur Seite und löste ihren Arm aus seinem Griff. Sie hatte sich noch nie im Leben vor jemandem gefürchtet, aber dieser Na’kyrim weckte ein Gefühl in ihr, das der Furcht nahe kam. Obwohl sie ihm mit einem Schlag das Handgelenk oder sogar das Genick brechen konnte, glaubte ein Teil von ihr, dass sie die Schwächere war. Und sein unbeirrter Blick und seine ruhige, magische Stimme redeten ihr ein, dass er ihr tatsächlich das verschaffen könne, was sie sich wünschte. Er ist mehr, als er zu sein vorgibt, wies sie sich zurecht. Diese Stimme schafft es, deine Gedanken zu verdrehen, deinen Verstand zu vernebeln.
    »Ihr weicht zurück«, murmelte er. »Habt Ihr Angst vor mir?«
    »Nicht vor Euch«, erwiderte sie. »Aber ich misstraue Eurer Stimme. Was wollt Ihr von mir?«
    »Sprecht mit Kanin! Bringt ihn dazu, mir sein Wohlwollen zu schenken. Bringt ihn dazu, meine Hilfe anzunehmen.«
    Sie zögerte. Zögern widersprach ihrer Natur ebenso wie Furcht.
    »Ich habe bisher alle meine Versprechen gehalten«, raunte Aeglyss. »Ich habe den Schleiereulen meinen

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