Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
und Euren Willen aufgezwungen. Euer Vater vertraute mir. Lernt auch Ihr, mir zu vertrauen, Wain! Und wirkt auf Euren Bruder, dass er mir vertraut!«
Eine unerträgliche Anspannung hatte Wain erfasst. Ihre Schultern und Bauchmuskeln verkrampften sich, ihr Puls hämmerte gegen die Schläfen.
»Also gut«, sagte sie, ohne recht zu wissen, warum sie es tat. »Ich werde mit meinem Bruder sprechen. Kommt morgen Vormittag zu uns. Wir werden eine Ratsversammlung in der Großen Halle abhalten.« Sie traf Anstalten, von der Mauer hinunterzuklettern.
»Wartet!«, rief er, und sie wandte sich noch einmal nach ihm um. »Weshalb verachtet Ihr mich so, Wain?« Seine Stimme klang jetzt verändert. Sie glaubte, ein echtes Bedürfnis nach Anerkennung herauszuhören, weigerte sich jedoch, diesem Eindruck zu trauen.
»Ihr seid, was Ihr seid«, erwiderte sie, »und ich bin, was ich bin. Ich verachte Euch nicht, aber Ihr gehört nicht zum Schwarzen Pfad. Und Ihr gehört nicht zu meiner Rasse.«
»Mein Vater gehörte dazu. In seinen Adern floss das gleiche Blut wie in den Euren. Das sollte etwas ausmachen. Aber es ist nicht genug, habe ich recht? Nicht genug für Euch. Ich begreife nicht, weshalb Ihr – und Euer Bruder – auf mich herabseht. Ich tat doch alles, was Ihr wolltet. Ich gab mir solche Mühe, Eure Gunst zu erlangen.«
»Nur Narren suchen nach Gründen«, sagte Wain leise. »Es gibt keinen Unterschied zwischen dem, was war, und dem, was sein wird. Alle diese Dinge geschehen, weil sie geschehen müssen. Sie sind der Pfad.«
»Werdet Ihr mich anders sehen, wenn ich Euch gebe, was Ihr wollt?« Er lächelte, und es war ein Lächeln, das sie erschütterte. »Bin ich in Euren Augen wirklich so furchtbar? Ihr erscheint mir so schön. Ihr seid nicht wie die anderen. Ich will nur, dass Ihr mir vertraut, dass Ihr mich an Eurer Seite an diesem Unternehmen teilhaben lasst.«
Ihr Atem ging leicht und flatternd. Er streckte die Arme nach ihr aus. Sie hatte das Gefühl, auf einer hohen Klippe zu stehen, während die Welt unter ihr wegsank. Dann sah sie seine Fingernägel, und die waren schlierig trüb. Sie erinnerte sich, wer und was er war. Im nächsten Moment fuhr sie herum und sprang mit wenigen Sätzen über die großen Steinblöcke hinunter auf die Straße.
»Bitte …«, hörte sie ihn kaum vernehmbar sagen.
Sie zwang sich, nicht zu laufen, als sie in die Stadt zurückkehrte, und sie drehte sich kein einziges Mal um, obwohl sie seine Augen wie zwei glühende Kohlen im Rücken spürte.
Bei der nächsten Begegnung hörte Inurian den anderen nicht einmal mehr eintreten. Er spürte seine Nähe, und das reichte, um ihn zu wecken. Es war wie ein Atemhauch, der ihn streifte; wie ein Stein, der in den Teich des Gemeinsamen Ortes fiel. Inurian rollte sich herum. Aeglyss saß mit dem Rücken an der Wand und umschlang mit beiden Armen die an die Brust gezogenen Knie. Sein Gesicht befand sich im Schatten. Es herrschte eine Stille, die sich nur im Herzen der Nacht über die Welt legt. Inurian schwieg. Er beobachtete seinen Besucher und wartete.
Aeglyss begann zu sprechen. »Ich erfuhr nie den Namen meines Vaters. Sie töteten ihn noch vor meiner Geburt, als sie merkten, dass ich im Schoß meiner Mutter heranwuchs. Sie wollte mir nie verraten, was sie ihm antaten, aber sie sind grausam, die Schleiereulen. Ein Huanin und überdies ein Gefangener, der es gewagt hatte, mit einer von ihnen das Lager zu teilen … nun ja. Sie hätten genauso gut ihr das Leben nehmen können. Oder mir, noch ehe ich meinen ersten Atemzug getan hatte.«
Inurian wagte es nicht, sich zu bewegen. Er konnte die Gefühle, die sich in seinem Gegenüber verknoteten und wieder lösten wie der Leib einer Schlange im Feuer, fast mit Händen greifen.
»Ich war … sechs vielleicht? Oder acht? Eines der anderen Kinder – ein Mädchen –, ah, wie hieß sie nur gleich? Ihr Name fällt mir nicht mehr ein. Sie verfolgte und quälte mich. Die Kyrinin springen mit unsereinem nicht besser um als die Huanin. An jenem Tag trieb sie es einfach zu weit. Ich befahl ihr, das Messer aus dem Gürtel zu holen, das sie zum Häuten des Wilds bei sich trug. Ich befahl ihr … sie stieß es sich in die Hand. Zum ersten Mal begriff ich, warum sie Angst vor mir hatten … dass da eine besondere Gabe war.
Sie sperrten mich ein, vermutlich mit der Absicht, mich umzubringen. Aber dann kam meine Mutter. Sie zerschnitt die Zeltwand und trug mich weg. Wir flohen in den Wald, nur wir beide. Wisst
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