Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Glattes. Behutsam umschloss er den Fisch und richtete sich auf. Aber noch ehe er seinen Fang aus dem Wasser geholt hatte, entwand er sich mit einem verächtlichen kleinen Ruck seiner Hand und ergriff die Flucht.
Die Enttäuschung war ihm anzumerken. Wieder lächelte Ess’yr.
Die eine Forelle blieb ihre einzige Beute. Sie zerlegten sie in vier Teile, und obwohl jeder nur wenige Bissen bekam, war es ihre köstlichste Mahlzeit seit Verlassen des Vo’an .
Rothe presste die Lippen zusammen, als er einen Blick auf Orisians Wunde warf. Orisian, der auf dem Boden lag, hatte die Jacke ein Stück hochgeschoben.
»Wie sieht sie aus?«, wollte er wissen.
Rothe zuckte unverbindlich die Achseln. »Viel wichtiger ist, wie sie sich anfühlt.«
»Nicht schlecht. Manchmal juckt sie. Ist sie geschlossen?«
»Fast. Aber noch gerötet. Ihr müsst Euch schonen.« Er roch an dem mit einer Paste bestrichenen Verband, den er von der Wunde gelöst hatte. »Ich möchte nur wissen, was für ein Zeug sie da draufgeschmiert haben.«
»Mir reicht, dass es geholfen hat.«
Rothe schniefte abfällig und richtete sich auf.
Orisian strich die Jacke glatt und setzte sich vorsichtig auf. Das Muskelgewebe um die Wunde war immer noch sehr empfindlich. »Ich bin sicher, dass sie genau wussten, was sie taten. Inurian verwendet nur Heilmittel der Kyrinin. Und er hat noch nie einen Schaden damit angerichtet, oder?«
»Nein, aber er konnte auch nicht alle Leute heilen, die zu ihm kamen«, meinte Rothe.
»Mag sein. Diese Medizin hat jedenfalls Wunder gewirkt.«
Rothe starrte mit gerunzelter Stirn auf die Paste. Orisian ließ die Blicke zu Ess’yr wandern, die ein Stück hangaufwärts saß und ihnen den Rücken zuwandte. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass Rothe den Verband abnahm, aber der Heilungsverlauf schien ihr gleichgültig zu sein. Varryn war vor einer Weile verschwunden, sei es, um zu jagen, sei es, den Weg zu erkunden. Wie gewohnt hatte er es nicht für nötig erachtet, sich näher über sein Tun auszulassen.
Rothe kam ganz nahe und musterte Orisian mit ernstem Blick.
»Wir sollten gehen«, raunte er. »Allein. Wir sind nicht mehr ihre Gefangenen, auch wenn sie das vielleicht anders sehen.«
Orisian schüttelte den Kopf, aber Rothe blieb hartnäckig. »Das dauert mir zu lange. Anduran kann nicht weit entfernt sein. Wenn wir immer bergab gehen, müssten wir das Tal in einer oder zwei Stunden erreicht haben. Orisian, diese Waldwesen sind uns nicht freundlich gesinnt. Wir brauchen sie nicht.«
Orisians Blick wanderte beunruhigt zu Ess’yr. Er hoffte inständig, dass sie Rothes Worte nicht gehört hatte.
»Sie erhielten den Auftrag, uns zu begleiten, Rothe. Möglich, dass wir allein schneller von der Stelle kämen, aber ihre Vo’an’tyr befahl ihnen, dafür zu sorgen, dass wir ihr Gebiet verlassen. Sie werden nicht zulassen, dass wir unsere eigenen Wege gehen.«
»Wir benötigen ihre Erlaubnis nicht«, zischte Rothe. »Und dies ist nicht ihr Land. Es gehört uns – Euch. Der Augenblick ist günstig. Ihr habt Euch gut erholt. Ihr Bruder ist nicht da. Allein wird sie mit uns beiden nicht fertig.«
Wieder warf Orisian einen besorgten Blick in Ess’yrs Richtung. Ihr Nacken und ihre Schultern wirkten völlig entspannt. Aber er bemerkte, dass ihre rechte Hand auf dem Speer ruhte, der dicht neben ihr lag; er konnte sich nicht entsinnen, die Waffe vorher gesehen zu haben. Plötzlich überfiel ihn Furcht – das Gefühl, dass nur wenige Schritte in der Zukunft eine schreckliche Gefahr lauerte.
»Nein, Rothe«, sagte er leise, aber sehr entschieden. »Nein. Ich will nichts mehr davon hören. Wir bleiben bei ihnen.«
Die Worte kamen ihm fremd und unbeholfen über die Lippen, und er wusste auch weshalb. Noch nie zuvor hatte er Rothe einen echten Befehl erteilt. Das war bis zu diesem Tag nicht notwendig gewesen. Sein Leibwächter starrte ihn an, und einen Lidschlag lang las Orisian in seinen Augen den Instinkt, ihm zu widersprechen. Der Wunsch erlosch, und die Anspannung wich aus den Zügen des Kriegers.
»Wie Ihr meint«, murmelte Rothe, und Orisian vernahm in seiner Stimme nicht den Hauch von Ärger oder Missbilligung.
Kurz darauf kehrte Varryn zurück und setzte sich wortlos neben seine Schwester. Ein Regenschauer fegte über sie hinweg. Er kam vom Norden her, prasselte eine halbe Stunde lang auf die Bäume nieder und durchnässte den Wald. Als er vorbei war, schüttelten die Kyrinin das Regenwasser ab wie Tiere.
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