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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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Ess’yr beugte sich weit vor und ließ ihr langes Haar wie einen Vorhang vor das Gesicht fallen. Orisian beobachtete, wie sie mit den Fingern durch die Strähnen fuhr und sie mit wenigen kräftigen Bewegungen auswand.

    Der tote Junge lag da, wie er zu Boden gestürzt war, einen Arm unter dem Brustkorb eingeklemmt. Rothe legte ihm die Hand auf die Schulter und rollte ihn herum. Die Gliedmaßen machten die Bewegung träge mit. Die Leichenstarre hatte noch nicht richtig eingesetzt. Orisian blickte kurz in ein übel zugerichtetes Gesicht, ehe Rothe niederkniete und ihm die Sicht versperrte.
    Der Tote trug Beinlinge aus ungefärbtem Wollstoff und derbe Lederpantoffeln – ärmliche Kleidung, die auf eine Hirten- oder Holzfällerherkunft hindeutete. Der Junge lag in einer kleinen Senke. Bäume neigten sich über ihn. Das Gras war üppig grün und regenfeucht.
    Die beiden Kyrinin standen ein Stück entfernt und hatten sich auf ihre Speere gestützt. Sie beobachteten, wie Rothe dem Kind die Augen schloss. Danach musste er sich die Hand im Gras abwischen. Er drehte den Toten wieder auf den Bauch, um das entstellte Gesicht zu verbergen.
    »Noch nicht lange tot«, sagte der Leibwächter. Er stand auf. Orisian fand, dass er müde aussah.
    Sie konnten nicht weiter als einen Tagesmarsch von Anduran entfernt sein, in einer Senke zwischen den Hügeln, die den Blick auf das Tal des Glas verstellten. In den letzten beiden Stunden waren sie durch einen Teil des Walds gewandert, der im Sommer als Weideland gedient hatte. Die meisten Bäume waren jung und dünn; von den älteren, die gutes Brennholz lieferten, waren nur Stümpfe übrig.
    »Das steckte in der Wunde«, raunte Rothe und streckte den Arm aus. Auf seiner Handfläche lag ein Stück Horn mit scharf geschliffener Spitze.
    »Was ist das?«, erkundigte sich Orisian.
    »Die Tarbain aus dem Norden bestücken ihre Keulen damit. Das waren seine Mörder – Tarbain.« Sein Blick streifte Ess’yr und Varryn. »Wilde, die man kaum als Menschen bezeichnen kann.«
    »Tarbain«, wiederholte Orisian leise. »Dann steht es schlimm, nicht wahr?«
    Rothe nickte. Er schnippte den Hornsplitter zu Boden, wo er spurlos im Gras verschwand.
    »Ja«, sagte er. »Wenn Tarbain so weit in den Süden vorgedrungen sind, steht es wirklich sehr schlimm. Sie können nur mit einem Heer des Schwarzen Pfads hierhergelangt sein. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich dies hier nicht mit eigenen Augen sähe.«
    »Wir sollten den Toten begraben«, meinte Orisian.
    »Seine Mörder können nicht weit entfernt sein. Es ist nicht sicher, hier zu bleiben.«
    Orisian betrachtete den toten Jungen. Sobald das Leben ausgelöscht war, hinterließ es keine Spur. Der Körper wirkte formlos. Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass er je mehr als eine leere Hülle gewesen war. Wenn Orisians Befürchtungen stimmten, dann hatte seine gesamte Familie diesen Zustand erreicht – ganz sicher Fariel und Lairis, vielleicht auch Kennet und Anyara. Alle. Er wollte wegschauen, aber er konnte die Blicke nicht von dem säuberlich geflickten Riss an der Jacke des Jungen lösen.
    »Wie alt er wohl sein mag?«
    »Ich weiß es nicht«, murmelte Rothe.
    »Aber wie alt schätzt du ihn?« Orisian hörte eine seltsame Hartnäckigkeit in seiner Stimme. Es war, als spräche ein Fremder.
    »Zwölf. Vielleicht dreizehn.«
    »Wir sollten die Leute suchen, die das getan haben«, meinte Orisian.
    »Ich glaube nicht …«, begann Rothe.
    Orisian deutete auf eine Stelle an der Kante der kleinen Senke, wo ein schmaler Trampelpfad durch das Gras führte. »Selbst ich erkenne die Spuren«, sagte er.
    »Es wäre besser, die Sache auf sich beruhen zu lassen«, widersprach Rothe. »Wir müssen so schnell wie möglich Anduran erreichen.«
    »Nein. Der Junge war sicher nicht allein hier draußen. Seine Familie, sein Daheim, kann nicht weit entfernt sein. Wahrscheinlich suchen seine Eltern nach ihm.«
    »Sehr viel wahrscheinlicher sind sie ebenfalls tot, und die Tarbain fressen gerade ihre Herzen. Die werden sich freuen, wenn wir auftauchen.«
    Wütend starrte Orisian seinen Leibwächter an. Rothe hielt dem Blick mit ruhiger, ernster Miene stand.
    »Dann töten wir sie eben«, fauchte Orisian. »Ich werde diesem Pfad folgen, und wenn du es für noch so unvernünftig hältst. Dieser Junge war einer von uns. Sollen wir vor seinem Tod einfach die Augen verschließen?«
    Rothe strich sich über den Bart.
    »Mein Entschluss steht fest, Rothe. Ich bin der Neffe des

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