Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
Vom Netzwerk:
?«, fragte er Orisian finster.
    »Ich weiß nicht«, log Orisian. »Wahrscheinlich so etwas wie ›Vorsicht‹.«

    Manchmal, wenn sie sich ihren Weg entlang der Berghänge bahnten, konnten sie kaum glauben, dass sie sich noch im Herrschaftsgebiet von Orisians Onkel befanden. Gelegentlich stießen sie auf Pfade, die zu unbeholfen und plump angelegt waren, um von den Kyrinin zu stammen. Varryn ließ nicht zu, dass sie diese Strecken benutzten. Hin und wieder entdeckten sie auf Lichtungen auch Spuren von Weidetieren, die Überreste eines Holzfällerlagers oder die Asche eines Feuers, das Jäger entfacht hatten – flüchtige Hinweise auf die Anwesenheit von Menschen. Nichts von Dauer, keine bleibenden Narben.
    Orisian dachte an das Anain-Gesicht, das über In’hynyrs Vo’an wachte. Ess’yr hatte gesagt, die Anain seien da, auch wenn man sie nicht sah. Ihm kam zu Bewusstsein, dass er jeden Schatten anstarrte, der vorüberhuschte, jeden Zweig, der sich im Wind bewegte. Er zuckte zusammen, sobald Tauben schwirrend aus den Bäumen aufstoben. Und ein Schauer erfasste ihn, wenn er das heisere Gebell der Füchse in der Abenddämmerung hörte.
    Sein Unbehagen wurde noch durch die kleinen Rituale verstärkt, die er bei Ess’yr und Varryn bemerkte. Sie entzündeten ihre kleinen Feuer nie vor Einbruch der Dunkelheit und umgaben die Flammen mit einem behelfsmäßigen Schirm aus Ästen, um das Licht zu dämpfen. Wenn ihr Bruder abends die Glut vom Feuer der vergangenen Nacht aus dem Birkenrinde-Behälter schüttete, in dem sie tagsüber weiterschwelte, suchte Ess’yr einen flachen Stein. Sie legte etwas von ihrem Proviant darauf und murmelte kaum hörbar einige Worte. Sobald sie schwieg, beugte sich Varryn über die Essenskrümel und flüsterte die gleiche Beschwörung. Wenn sie am Morgen aufbrachen, ließen sie die Opfergabe zurück.
    Orisian hatte Hemmungen, Ess’yr nach der Bedeutung der kleinen Zeremonie zu fragen. Aber offenbar konnte er seine Neugier nur schlecht verbergen, denn am dritten Abend setzte sich Ess’yr neben ihn ans Feuer.
    »Das Essen ist für die ruhelosen Toten. Sie streifen umher. Kein Anhyne hier, um uns zu beschützen. Wenn sie nachts kommen, nehmen sie das Essen. Tun uns nichts.«
    »Die ruhelosen Toten«, wiederholte Orisian und fühlte, wie jenseits des schwachen Lichtkreises, den das Feuer warf, die Schwärze aufstieg. Die nicht begrabenen Toten.
    »Ihr habt Angst vor den Toten«, sagte er leise.
    »Nicht Angst. Mitleid. Nur mit denen, die nicht ruhen.«
    Orisian wusste nicht recht, wie er sich in Ess’yrs Gegenwart verhalten sollte. Er spürte, dass sie ihm gegenüber befangener war als im Vo’an . Das konnte mit Varryn zu tun haben oder mit der Tatsache, dass sie nicht mehr seine Heilerin war, sondern seine Bewacherin, Führerin und Begleiterin. Dennoch, sie schaute nicht von oben auf ihn herab, wie Varryn es tat. Sie redete mit ihm und erklärte ihm Dinge, die er nicht kannte, wenn auch nicht mehr so frei wie im Lager. Häufiger als ihr Bruder hielt sie inne, um auf ihn und Rothe zu warten, wenn sie nicht mehr Schritt halten konnten.
    Sie kamen an einen Bach, der zwischen moosbedeckten Steinen sprudelte. In einer Mulde sammelte sich das Wasser zu einem kleinen Teich, ehe es seinen Weg ins Tal hinunter fortsetzte. Während Varryn und Rothe schweigend dasaßen, nahm Ess’yr Orisian mit an den Tümpel und bedeutete ihm, neben ihr am Ufer niederzuknien. Er tat es vorsichtig, eine Hand gegen die Seite gepresst. Die Wunde hatte den ganzen letzten Tag geschmerzt.
    Sie schob den Ärmel ihrer Wildlederjacke hoch und tauchte die schlanke, blasse Hand mit den langen Fingern so sacht ins Wasser, dass sich die Oberfläche kaum kräuselte. Als sie unter den Rand der Böschung griff, schaute sie weder in den Teich noch auf ihren Arm, sondern richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf Orisian. Er konnte dem Blick ihrer grauen Augen nicht ausweichen.
    Ihre Züge verrieten nichts, weder Anspannung noch Konzentration. Ihr Gesicht war so unbewegt wie der Spiegel des Wassers. Dann tauchte ihre Hand wieder auf. Ein glitzernder kleiner Fisch zappelte zwischen den Fingern, eine Bachforelle mit rot gesprenkelten Flanken. Orisian lachte, und ein Lächeln huschte über Ess’yrs Lippen, als habe die Sonne sie berührt.
    »Du«, sagte sie.
    Er nickte und tauchte die Hand tief ins Wasser. Seine Finger tasteten die Uferkante entlang, fühlten die Erde, steiften über Kieselsteine. Er berührte etwas Lebendiges, Kaltes,

Weitere Kostenlose Bücher