Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
sich die Unterlippe durchgebissen.
Und viele Meilen entfernt, inmitten alter Ruinen hoch droben auf den verschneiten Gipfeln des Car Criagar, stieß eine Frau einen kurzen, schrillen Schmerzensschrei aus. Der Wind, der um die Berge fegte, riss ihn ihr von den Lippen.
In der Großen Halle von Anduran starrte Kanin auf den Bewusstlosen hinab.
»Höchst merkwürdig«, murmelte Cannek.
Kanin wurde aus seinen Gedanken gerissen.
»Schafft ihn weg!«, befahl er dem nächststehenden seiner Hauptleute. »Bringt ihn zu seinen Waldelfenfreunden oder werft ihn in irgendeinen Schuppen! Ich will ihn nicht mehr sehen.«
Während Aeglyss ins Freie geschleift wurde, nahm Kanin seinen Platz wieder ein.
»Wie meine Schwester sagte …«, begann er.
»Ich glaube, die Burg kann erstürmt werden«, unterbrach ihn Shraeve ruhig.
Kanin schaute sie überrascht an. Er hatte gedacht, ihr seien die Beratungen ziemlich gleichgültig, da sie bis jetzt nur stumm zugehört hatte.
»Es kostet vielleicht Eure letzten Kräfte, aber was nützen die Euch, wenn Ihr hier ohne Erfolg bleibt?«, fuhr die Inkallim fort. »Im Fall eines Siegs hingegen … nun, wer weiß, was dann geschieht.«
»Ich teile Eure Ansicht«, sagte Wain. Kanin warf ihr einen Blick zu und sah, wie kühl sie Shraeve musterte. Es war unschwer zu erkennen, dass die beiden Frauen sich nicht mochten. Vielleicht waren sie sich in ihrer Entschlossenheit und ihrer Unversöhnlichkeit zu ähnlich. Wenn sich beide für einen Sturm auf die Burg einsetzten, dann wusste Kanin jetzt schon, wie die Beratung enden würde.
VII
Der Weg durch den Wald in Begleitung der Kyrinin war für Orisian eine Offenbarung. Er hatte oft genug an den wilden Treibjagden seines Onkels oder an den sanfteren Beizjagden daheim teilgenommen. Noch früher hatte er mit Fariel und Anyara am Rande der großen Forstgebiete um Kolglas gespielt und war mit seinem Vater nach Drinan oder Stryne tief im Innern des Waldlands gereist, aber sein Herz gehörte den weiten, offenen Ebenen der Küste und des Flusstals.
Wie ihm erging es den meisten Leuten im Herrschaftsgebiet des Hauses Lannis. Auch wenn viele Bauern in der wärmeren Jahreszeit ihr Vieh tief nach Anlane hineintrieben und die Holzfäller eine besonders kräftige Pferderasse züchteten, um die Stämme aus den Wäldern zu den Zimmerleuten und Möbelschreinern von Anduran zu schaffen, fühlten sie sich im Reich der Bäume nicht wohl. Für sie war der Wald Wildnis, die gerodet werden musste, oder eine Quelle für Nahrung, Holz und Viehfutter, die man nur bei äußerster Wachsamkeit nutzen konnte.
Nun, da sie Ess’yr und Varryn folgten, kam Orisian zu Bewusstsein, dass man den Wald auch mit ganz anderen Augen betrachten konnte. Es lag nicht nur daran, dass sich die Kyrinin schnell und sicher durch das weglose Gelände bewegten; es lag vor allem daran, dass er so viele Dinge sah, die er nie zuvor beobachtet hatte. Das erste Mal, als Ess’yr kurz anhielt und prüfend den Kopf hob, wie er es von Rehen kannte, war er verwirrt. Nachdem das noch zweimal geschehen war, wurde ihm klar, dass sie Dinge hörte, roch oder spürte, die jenseits seiner Wahrnehmung lagen.
Sobald er das begriff, bekam der Wald für ihn ein neues Gesicht. Vögel, die krächzend über ihnen hinwegflogen, schienen einen Namen zu rufen, den er nicht verstand. Bäume vermittelten den Eindruck von menschlichen Gestalten, die mitten in einer Verrenkung erstarrt waren. Am zweiten Tag draußen in der Wildnis umrundeten die vier Wanderer gerade ein undurchdringliches Dickicht aus Brombeerranken und Schösslingen, als die beiden Kyrinin unvermittelt innehielten und sich nicht mehr vom Fleck rührten. Orisian und Rothe blieben ebenfalls stehen. Ess’yr und Varryn gingen in die Hocke und bedeuteten ihren Begleitern, das Gleiche zu tun.
In dieser Stellung warteten sie eine halbe Ewigkeit. Orisians Beinmuskeln verkrampften sich, und die frisch vernarbte Wunde pochte. Er unterdrückte mühsam die Frage, was eigentlich los war, und ahnte, dass die Gereiztheit, die sich in ihm ausbreitete, Rothe noch viel stärker zusetzen musste. Sein Leibwächter empfand es sicher als erniedrigend, dass sie den Launen der Kyrinin so hilflos ausgeliefert waren.
Endlich vernahmen sie irgendwo weiter vorn ein Rascheln und das Knacken von Zweigen unter einem schweren Tritt. Ein großes Tier stapfte mitten durch das Unterholz den Hang hinauf. Bald darauf wurden die Geräusche leiser und verklangen in der Ferne. Aber selbst
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