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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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alte Knochen war porös und dunkel verfärbt von dem Erdreich, in dem er gelegen hatte. Kylane untersuchte ihn mit gespielter Neugier.
    »Was glaubt Ihr – Held oder Schurke?«, fragte er.
    Unter den Nebelschwaden und düsteren Tümpeln der Glas-Auen lagen die Gräber von Tausenden, die bei Kan Avor ihr Leben gelassen hatten, in jener letzten Schlacht des Glaubenskriegs, der die Anhänger des Schwarzen Pfads – unter Führung des Gyre-Geschlechts, das damals seinen Hauptsitz in der Festung Kan Avor hatte – nach Norden in die Verbannung getrieben hatte. Danach hatten die Scheiterhaufen Tag und Nacht gelodert, aber sie hatten nicht ausgereicht, um alle Toten zu verbrennen.
    Nach der Vertreibung des Hauses Gyre hatte Kan Avor unter seinen gleichgültigen neuen Herren allmählich an Glanz verloren, aber sein eigentlicher Untergang kam später, als das Haus Lannis gegründet wurde und die Herrschaft über das Tal des Glas erhielt. Einer der ersten Befehle von Sirian, dem neuen Than, hatte gelautet, die Stadt abzufackeln und zu überfluten. Kan Avors langsames Versinken im Wasser sollte seinen Untertanen ständig vor Augen führen, dass er entschlossen war, sein neues Herrschaftsgebiet mit harter Hand zu regieren.
    »Schurke, würde ich sagen«, beantwortete Kylane seine Frage selbst. »Durch und durch Schwarzer Pfad, der Kerl.« Mit lässiger Handbewegung schleuderte er den Knochen weg. »Kein würdiger Reisegefährte für den Neffen des Thans von Lannis.«

    Das Tageslicht verblasste, als sie das südliche Ende der Glas-Auen erreichten. Durch den dünnen Sprühregen, der seit geraumer Zeit fiel, kam ein Nest geduckter Häuser in Sicht.
    »Sollen wir die Nacht in Siriandeich verbringen?«, schlug Kylane vor.
    »Warum nicht?«, stimmte ihm Orisian zu. »Dann ist es morgen nur noch ein kurzer Ritt bis Glasbridge. Aber sieh zu, dass du genug Schlaf bekommst und dir nicht die Nacht in den Schenken und beim Würfelspiel um die Ohren schlägst.«
    Kylane legte eine Hand aufs Herz. »Ich doch nicht, Orisian! Gegen solche Versuchungen bin ich gefeit.«
    Rothe, der ein Stück vor ihnen ritt, schnaubte spöttisch, sagte aber nichts.
    Orisian hatte Siriandeich schon immer als düster und trostlos empfunden. Dreißig oder vierzig kleine Hütten drängten sich zusammen, umgeben von feuchten Gehölzen mit dürftigen Bäumen. Das einzige Haus, das nicht ganz so schäbig wie die anderen wirkte, war die Herberge. Die erleuchteten Fenster verhießen zumindest einen Hauch von Wärme und Fröhlichkeit. Die Nebengebäude – Stall, Schmiede und Stellmacherei – schmiegten sich an seine Mauern wie Kinder, die sich an den Schürzenzipfeln ihrer Mutter festhalten. Das Dorf selbst wurde von der harten Linie des Siriandeichs beherrscht. Der mehr als mannshohe, massive Wall aus Holz, Steinen und aufgeschütteter Erde führte vom Rand des Dorfs ins Dämmerlicht hinaus. Mit Hilfe dieses Damms hatte Sirian einst Kan Avor überflutet. Und in all den Jahren, die seit seinem Bau vergangen waren, hatten die meisten Dorfbewohner im Sold des jeweiligen Lannis-Thans gestanden, um das Bollwerk gegen den Fluss instand zu halten und dafür zu sorgen, dass Kan Avor nie mehr die Fesseln des Wassers abstreifen konnte.
    Nachdem sie ihre Pferde für die Nacht im Stall untergestellt hatten, betraten Orisian, Rothe und Kylane die Herberge. Der Wirt erschien, noch bevor sie einen Tisch gefunden hatten, und verneigte sich tief vor Orisian.
    »Willkommen, willkommen! Es ist mir eine große Ehre, Euch in meinem Haus begrüßen zu dürfen, edler Herr!«
    Die Gäste in der halb vollen Schankstube bestanden aus Dorfbewohnern und Reisenden. Die Gespräche verstummten, als Orisian mit seinen beiden Leibwächtern an einem der Tische Platz nahm, aber das Schweigen hielt nicht lange an; es war keine Seltenheit, dass Verwandte des Thans in der Herberge Rast machten.
    Orisian lümmelte auf seinem Stuhl, genoss die warme Luft auf der Haut und sog die köstlichen Essensgerüche ein. Er zog die Stiefel aus und bewegte die kalten Zehen. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, was er das letzte Mal in diesem Wirtshaus gegessen hatte – er war hungrig gewesen, und es hatte ihm geschmeckt –, als eine Schankmaid an den Tisch trat und vor ihm knickste. Ihr Lächeln war so warm wie ein dickes Federbett. Orisian lächelte ebenfalls. Er nahm an, dass sie nach seinen Wünschen fragen wollte, aber sie brachte kein Wort hervor, und sie schauten sich an, während ihr Lächeln immer

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