Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
zurückzukehren, sobald Igryn oc Dargannan-Haig gefangen ist. Nur das wollte ich Euch kundtun. Ich möchte nicht, dass der eilige Aufbruch meiner Truppen falsch aufgefasst wird.«
Der Steward nickte. »Narran steht natürlich unter Eurem Kommando. Ich bin sicher, dass ihn der Hoch-Than nicht länger als unbedingt nötig aufhalten will.«
»Ich hoffe, er will und tut es nicht«, entgegnete Croesan.
Behomun lächelte.
Auf der Straße südlich von Anduran herrschte lebhaftes Treiben. Orisian, Rothe und Kylane kamen an Viehtreibern und Bauern vorbei und passierten Karren, die mit Schaffellen, Pelzen und den reich geschnitzten Möbeln aus den Schreinereien von Anduran zum Hafen von Glasbridge unterwegs waren. Später am Vormittag überholten sie eine Kolonne von einem halben Dutzend Holzfuhrwerken, gezogen von den großen, kräftigen Arbeitspferden der Lannis-Waldbewohner.
Sie hatten den Glas gleich hinter Anduran überquert, und die mit einem niedrigen Damm gesicherte Straße folgte nun seinem nördlichen Ufer. Obwohl der Fluss nach den Niederschlägen in den Hochlandebenen jenseits der Lannis-Haig-Grenzen viel Wasser führte, lag der Pegel noch so weit unterhalb der Deichkrone, dass die Straße nicht gefährdet war. Auf den weiten Feldern im Süden, die keinen solchen Schutz besaßen, breiteten sich die ersten Pfützen und Tümpel aus – die Vorboten der Winterüberschwemmungen.
Nach einiger Zeit entfernte sich die Straße vom Fluss und führte in einem weiten Bogen am nördlichen Rand der Glas-Auen vorbei. Das riesige Feuchtgebiet nahm den Fluss auf und verbarg seinen Lauf in einem Labyrinth von Teichen, Kanälen und Sümpfen. In einem oder zwei Monaten würde eine geschlossene fahle Wasserfläche den größten Teil des Talbodens bedecken. Während Orisian am Saum dieser Wasserwildnis entlangritt, erkannte er durch die wallenden Nebel hindurch schwach die uralten Ruinen von Kan Avor. Die verfallenen Türme und Spitzen der versunkenen Stadt erhoben sich aus dem Dunst wie ein Geisterschiff am Meereshorizont. Der Anblick weckte wie stets ein leises Unbehagen in ihm. Als Kind war er mit seinem Bruder Fariel einmal dort gewesen, im Hochsommer eines ungewöhnlich trockenen Jahres. Der Wasserspiegel hatte sich so stark gesenkt, dass sie durch einige der trostlosen Straßen reiten konnten. Die mit Schlick verkrusteten und von Unkraut überwucherten Gemäuer hatten hoch über ihnen aufgeragt und die Sonne verdunkelt. Orisian war die Stadt gruselig und verwunschen vorgekommen, und er hatte sie nie wieder besucht, obwohl Fariel ihn mit seiner Ängstlichkeit aufgezogen hatte. Fariel war ein Junge gewesen, der sich vor nichts und niemandem fürchtete.
»Man sollte sie niederreißen«, sagte Kylane, der Orisians Blicke bemerkt hatte. »Hat wenig Sinn, den Ort des Bösen da draußen verrotten zu lassen. Und das schöne Ackerland, das damals mit versank …«
»Wir brauchen sie als stete Mahnung«, entgegnete Rothe grimmig. »Den Schwarzen Pfad gibt es immer noch, droben im Norden. Ohne diese Ruinen vergäßen die Leute das bald. Zu viele haben es bereits verdrängt.«
Kylane zuckte mit den Schultern. »Du kannst den Menschen keine Vorwürfe machen, wenn sie den Frieden genießen. Seit der letzten Schlacht sind mehr als dreißig Jahre vergangen.«
»Du kannst ihnen Vorwürfe machen, wenn sie sich einreden, der Friede werde ewig währen. Tag für Tag wachen unsere Feinde jenseits des Tals der Steine mit dem Gedanken auf, die Götter kämen zurück, wenn sie uns nur alle zu ihrem herrlichen Glauben zwingen könnten. Du denkst doch nicht im Ernst, dass sie diese Gebiete nicht zurückerobern wollen, nur weil sie dreißig Jahre lang Ruhe gegeben haben?«
Hier am Saum der Glas-Auen war die Straße in einem schlechten Zustand, und immer wieder behinderten Schlammpfützen und tiefe Räderfurchen das Fortkommen. Als die Reiter eben wieder einem dieser Hindernisse ausweichen mussten, stieß Kylane einen überraschten Schrei aus und beugte sich gefährlich weit aus dem Sattel, um etwas vom Wegrand aufzuheben. Triumphierend richtete er sich auf und schwenkte seine Trophäe – einen menschlichen Kieferknochen.
»Ein besonderer Schatz der Glas-Auen!«, rief er Orisian grinsend zu. »Die Bauern der Umgebung behaupten, es bringe Glück, solche Dinger auszubuddeln.«
Orisian schnitt eine Grimasse. »Das ist mir auch schon zu Ohren gekommen«, erwiderte er. »Aber so dringend brauchen wir das Glück im Augenblick nicht, oder?«
Der
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