Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
es von Menschen. Kylanes Neugier galt einem mächtigen Segelschiff, das neben einem Dutzend kleinerer Boote lag und hoch aus dem Wasser ragte.
»Da!« Aufgeregt legte er Orisian eine Hand auf den Arm. »Ein Handelsschiff aus Tal Dyre!«
Einmal hatte der junge Gardesoldat seinem Herrn nach einigen Gläsern zu viel anvertraut, dass er als Kind immer davon geträumt habe, auf einem der Schiffe von Tal Dyre anzuheuern. Über die kühnen Schiffskapitäne und die sagenhaft reichen Handelsherren der fernen Insel machten die wildesten Abenteuergeschichten die Runde. Mittlerweile glaubte Orisian nicht mehr an solche Märchen, aber noch vor drei oder vier Jahren hatten sie in ihm die gleiche Sehnsucht geweckt wie in Kylane. Es hatte Zeiten gegeben, da er alles darum gegeben hätte, der Enge von Burg Kolglas und ihren traurigen Erinnerungen zu entfliehen. Wenn er damals von seinem hoch gelegenen Schlafzimmer aus die weite Fläche der Flussmündung betrachtet hatte, war es ihm verlockend erschienen, alles hinter sich zu lassen und über die Wellen zu gleiten wie die Seeleute von Tal Dyre.
»Der Hafenmeister winkt uns zu«, sagte Rothe mit einem leisen Seufzer.
Orisian warf einen Blick auf das reichlich protzige Gebäude am Fluss, in dem der Hafenmeister residierte. Renairan Tair dar Lannis-Haig beugte sich in der Tat weit über seinen Balkon – was angesichts seines Leibesumfangs durchaus ein mutiges Unterfangen war – und ruderte aus Leibeskräften mit den Armen. Als Orisian vor zwei Wochen auf seinem Weg nach Anduran durch Glasbridge geritten war, hatte er dem Hafenmeister versprochen, ihm auf dem Rückweg einen Besuch abzustatten. Es wäre ihm lieber gewesen, die Nacht ruhig in dem schönen Haus zu verbringen, das Croesan in der Stadt besaß, aber die Einladung des Hafenmeisters konnte er schlecht abschlagen. Der Mann besaß eine erbarmungslose Fröhlichkeit, die alles niederwalzte, was sich ihr in den Weg stellte.
»Orisian!«, brüllte Renairan. »Hier bin ich, hier!«
»Ich fürchte, wir können nicht so tun, als hätten wir nichts gehört«, murmelte Rothe, als sich Dutzende von Köpfen dem Hafenmeister zuwandten.
»Das wird ein langer Abend«, zischte Kylane halblaut.
Kylanes Prophezeiung erwies sich als zutreffend, allerdings nicht für ihn und Rothe. Orisian wurde unter vielen Verbeugungen bei den Gästen herumgereicht, die Renairan zum Mahl geladen hatte, eine Art Jagdtrophäe der feinen Gesellschaft. Der Hafenmeister hatte es eigentlich nicht nötig, seine Wichtigkeit zu unterstreichen – seine Sippe besaß seit langem großen Einfluss in Glasbridge –, aber der Versuchung, sein Haus mit einem engen Verwandten des Thans zu schmücken, hatte er nicht widerstehen können. Die Anwesenheit von Orisians Leibwächtern hielt man dagegen, zu deren großer Erleichterung, für unnötig. Renairans Eitelkeit ließ nicht zu, dass sich einfache Krieger – selbst wenn sie die Beschützer des Than-Neffen waren – an seiner illustren Tafel breit machten. Rothe hatte protestiert, aber nicht einmal er konnte im Ernst behaupten, dass Osirian unter der Prominenz von Glasbridge eine Gefahr drohte.
Der Speisesaal war mit Stechpalmen-, Wacholder- und Tannenzweigen dekoriert, dem traditionellen Schmuck des Winterfests. Im Kamin an der Stirnseite des Saals brannten Kiefern-Rundlinge, die den Raum mit ihrem harzigen Duft erfüllten. Der Geruch rührte an eine wunde Stelle und warf einen Schatten auf Orisians Stimmung. Zu den deutlichsten Erinnerungen an seine Mutter Lairis gehörte ihre strahlende Anwesenheit bei den Festen zum Winteranfang auf Burg Kolglas, Bilder, die sich in seinem Innern stets mit dem scharfen Aroma von Kiefernholz vermischten. Sie war der Mittelpunkt und ihre Stimme die süßeste Musik jener Feiern gewesen.
Orisian gab sich alle Mühe, seiner Rolle als Ehrengast gerecht zu werden. Er berichtete von dem Fest, das der Than zur Geburt seines ersten Enkels ausgerichtet hatte, und schilderte ausführlich Naradins Jagd auf den Eber. Nachdem die Anwesenden das Neueste über die Ereignisse auf der Burg erfahren hatten, wandten sich die Gespräche dem Alltag von Glasbridge zu – den Fischfängen der letzten Woche, den drohenden Winterstürmen und den Preisen, die erst kürzlich ein Handelsschiff drunten in Kolkyre erzielt hatte. Es waren Themen, von denen Orisian wenig Ahnung hatte. Er musste sich zusammennehmen, um im richtigen Augenblick zu lächeln, zu nicken oder eine passende Bemerkung einzustreuen. Schon
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