Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
schwächer als erwartet gewesen, aber Kanin hatte doch mindestens ein Drittel seines Heers verloren. Ein Hauch von Ruhm und Ehre lag über den toten Kriegern.
»Es ist mehr, als wir erhoffen konnten«, meinte Wain. »Die Vorsehung scheint ein großes Ziel zu verfolgen, wenn sie uns solche Siege schenkt.«
Kanin nickte. Seine Gedanken galten weniger dem Schwarzen Pfad als seinem Vater. Angain hatte seit Jahren von diesem Tag geträumt. Kanin und Wain hatten seine Träume verwirklicht. Was immer nun geschah, war unwichtig.
»Heute Abend können wir in den Hallen unserer Feinde feiern!«, rief Wain.
»Ja, aber zuerst wollen wir Boten nach Norden entsenden. Unser Vater wird hocherfreut sein. Und wenn Ragnor oc Gyre sieht, was alles möglich ist, kann er uns seine Hilfe nicht länger verweigern. Er wird die Gebiete absichern, die wir für ihn erobert haben.«
»Vielleicht. Wir sollten Croesan und seinem Sohn die Köpfe abschlagen und nach Tanwrye bringen lassen, damit die Krieger der dortigen Garnison sehen, dass ihr Than besiegt ist. Das wird ihre Angriffslust ein wenig dämpfen. Außerdem stöberten wir im Wohnturm Gryvans Steward auf; er hielt sich mit seiner Familie in den Küchengewölben versteckt. Sein Kopf gäbe ebenfalls ein hübsches Geschenk ab.«
»Gut. Igris soll sich darum kümmern.« Endlich schob Kanin das Schwert in die Scheide und lehnte den Schild gegen die Beine. Er beugte und streckte die Finger der Schwerthand. »Lass Anyara, dieses Mädchen aus Kolglas, heute Abend zum Fest aus dem Verlies holen. Sie darf nicht fehlen, wenn wir den Untergang ihres Hauses besiegeln.«
Er blickte zum Wohnturm hinauf. »Wir sollten uns da oben einige Gemächer nehmen«, meinte er und fügte ein wenig zusammenhanglos hinzu: »Ach, und Kennets Na’kyrim soll heute Abend auch zu unserer Siegesfeier erscheinen. Aeglyss scheint ganz vernarrt in ihn zu sein. Ich finde, das ist Grund genug, ihn aus dem Weg zu räumen.«
Das lang anhaltende Getöse, das den Fall der Festung begleitete, drang bis in Anyaras düstere Zelle. Es verschärfte ihre Angst, obwohl sie nicht wusste, was genau es zu bedeuten hatte. Sie saß zusammengekauert am Boden, den Rücken gegen die harte Mauer gepresst, und hielt sich die Ohren zu. Der Lärm des Gemetzels verstummte, aber bedrückendere Vorstellungen füllten die Leere, die er hinterließ. Mit einem Seufzer ließ sie die Hände sinken. Die Brise trug jetzt Stimmen zu ihr herein, die Schreie von Verwundeten und Sterbenden.
Die Kakophonie wollte kein Ende nehmen. Und als endlich doch Stille eintrat, war sie umso bedrohlicher. Eine Schlacht war vorbei, so viel begriff Anyara.
Die Krieger, die Anyara Stunden später abholten, waren keine gewöhnlichen Soldaten. Sie strahlten Hochmut aus, und ihre schweren ledernen Uniformröcke waren mit fein gearbeiteten Ketten verstärkt, die eher für Paraden als für Kämpfe geeignet erschienen. Vielleicht eine Art Ehrengarde des Horin-Gyre-Titelerben – oder seine feierlich herausgeputzte Schildwache.
Sie packten Anyara und zerrten sie aus der Zelle, den Korridor entlang und in den Gefängnishof. Es war fast dunkel. Ihr blieb nur ein kurzer Blick auf den freien Himmel, der sich hoch über ihr wölbte; dann wurde sie weitergestoßen. Im Hof wimmelte es von Menschen, die hierhin und dorthin hasteten. Anyara glaubte Gefangene in der Menge zu erspähen; verängstigte Gestalten, umringt von Kriegern des Schwarzen Pfads. Die Zellen füllten sich. Dann entdeckte sie Inurian, der auf sie zugetrieben wurde. Er schnitt eine Grimasse.
»Ich habe schon freundlichere Gastgeber kennengelernt«, spottete er.
Menschen schoben sich zwischen die beiden, und Anyara fand keine Gelegenheit mehr, ihm zu antworten. Man schleppte sie aus dem Gefängnis und schlug eilig den Weg zur Burg ein. Anyara stockte das Herz, als sie schon von Weitem den Lärm der Siegesfeier vernahm. Der letzte Hoffnungsfunke, den sie gehegt hatte, erlosch in ihr. Eine Horde Plünderer rannte mit lautem Geschrei vorüber. Einer schleifte ein Stück Stoff – einen zarten Vorhang, den er irgendwo heruntergerissen hatte – hinter sich her. Ein anderer hatte sich eine schwere Amtskette umgehängt, die vermutlich aus dem Besitz eines hohen Würdenträgers am Hof des Thans stammte. Die Wachen, die Anyara und Inurian eskortierten, traten beiseite, um die Feiernden vorbeizulassen.
Wieder ertönte weiter vorn Gejohle, und Anyara sah Männer, die eine wimmernde Schankmagd die Straße entlangzerrten.
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