Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Sie wandte den Blick ab. Einer ihrer Begleiter stieß sie an, und sie setzten ihren Marsch durch die Straße der Handwerker fort. Die einst prachtvollen Häuser, die sie säumten, waren nun heruntergekommen und ungepflegt wie ein Zug armer Trauernder. Dunkle Befürchtungen stiegen in Anyara auf, je näher sie dem freien Platz vor der Burg kamen. Sie wusste nicht, was sie dort erwartete, und sie wollte es nicht wissen.
Immer mehr Krieger strömten zur Burg hin. Sie schwangen Fackeln und tollten umher wie Verrückte. Es waren Tarbain, die den Eindruck erweckten, als gehörten sie in eine Höhle oder eine Pfahlhütte. Manche hatten die nackten Oberkörper mit Asche und Schlamm beschmiert. Die Wilden schrien den Glaubenskriegern im Vorbeirennen etwas zu, erhielten aber keine Antwort. Sie taumelten, berauscht von Branntwein, Beutegier und der Freude, dem Tod entronnen zu sein.
Zufällig fiel der verschwommene Blick eines Tarbain auf Anyara. Sie senkte die Lider, aber zu spät. Wie Klauen schlossen sich seine Finger um ihren Arm und zogen sie von ihren Bewachern weg. Die Horin-Gyre-Krieger wandten sich gegen die Tarbain. Einer von ihnen versetzte dem Mann, der Anyara gepackt hatte, einen Hieb mit der flachen Schwertklinge. Die Stimmung zwischen den beiden Gruppen wurde immer gereizter. Es kam zu Rempeleien, und was bis dahin rauer Spaß gewesen war, verwandelte sich rasch in Zorn. Ein Krieger schob sich vor Anyara, um sie gegen weitere Übergriffe abzuschirmen. Männer rauften und wälzten sich in Ringkämpfen auf dem Boden. Andere versuchten sie zu trennen. Anyara hatte Mühe, nicht umgerissen zu werden. Einige der Tarbain bedrohten ihre Gegner mit Keulen und Messern. Als ein gellender Schrei einen Treffer verkündete, gaben die Glaubenskrieger jegliche Zurückhaltung auf. Ein wildes Handgemenge setzte ein.
Anyara wandte sich um und hielt nach Inurian Ausschau. Der Na’kyrim stand dicht neben einer Kriegerin, deren ganze Aufmerksamkeit auf die Zweikämpfe ihrer Gefährten gerichtet war, und zog ein Messer aus ihrem Gürtel. Anyaras erschrockener Blick alarmierte die Frau. Sie warf sich herum und wollte sich auf Inurian stürzen. Der Na’kyrim war schneller. Er jagte ihr die Klinge in die Kehle. Das Messer entglitt seiner Hand, als die Kriegerin nach hinten sank.
Anyara sprang mit einem Satz über die Tote hinweg, und Inurian zog sie durch den Torbogen eines niedergebrannten Hauses.
»Lauf!«, stieß er nur hervor, während sie über die verkohlten Balken einer eingestürzten Treppe stolperten. Hinter ihnen erscholl aufgeregtes Geschrei. Inurian warf sich gegen eine Tür, die lose in den Angeln hing, und dann stürmten sie hinaus in eine rußgeschwärzte enge Gasse. Inurian hatte sie am Handgelenk gepackt, und sie konnte ihm nur folgen. Er wandte sich nach rechts und lief einige Schritte über das Kopfsteinpflaster, ehe er in das nächste Haus eindrang. Die Stimmen hinter ihnen kamen bedrohlich näher. Durch ein offenes Fenster gelangten sie in eine andere Gasse. Ein fauliger Gestank verriet ihnen, dass sich irgendwo ein verlassener Schlachthof befinden musste. Ratten ergriffen die Flucht, als sie sich näherten.
Inurian legte eine Hand über Anyaras Mund und zog sie nach unten, in die schwarzen Schatten, die sich in einem Winkel zwischen Mauerwerk und Boden gesammelt hatten. Sie wich unbehaglich zurück, aber er raunte ihr ins Ohr: »Still!«
Sie hörte sein tiefes, gleichmäßiges Atmen. Der Lärm der Verfolgung nahm zu. Stiefel dröhnten über das Pflaster. Sie vernahmen unterdrückte Flüche und erregtes Geschrei. Einige der Jäger entfernten sich. Andere kamen näher, mit leiseren, schleichenden Schritten. Türen knallten, als sie in die Häuser spähten, die das Gässchen säumten.
Anyara kniff die Augen ganz fest zu, als könne sie damit die Sicht ihrer Häscher behindern. Inurian lag starr wie ein Toter neben ihr. Ganz in der Nähe rief einer ihrer Verfolger einen Befehl. Dann entfernten sie sich. Die Stimmen wurden leiser, und die Schritte verklangen in der Nacht. Inurian atmete langsam aus, und Anyara öffnete die Augen. Der Na’kyrim richtete sich halb auf und spähte die Gasse entlang.
»Rasch«, flüsterte er, »sie werden noch ein Weilchen annehmen, dass wir vor ihnen sind. Inzwischen müssen wir versuchen, die Stadt zu verlassen. Falls sich bei den Truppen hier Jäger-Inkallim befinden, können wir uns nicht lange vor ihnen oder ihren Hunden verbergen. Jenseits der Stadtmauer wären wir
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