Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
anderen Seite des Flusses jemanden, der uns helfen kann. Ich glaube, dass ich sie … spüre.« In der Stimme des Na’kyrim schwang Wehmut, fast ein Schmerz mit. »Ich bin nicht sicher. Aber wir müssen uns beeilen, so oder so. Wenn sie die Schleiereulen auf unsere Spur ansetzen, brauchen wir einen gewaltigen Vorsprung, um sie abzuschütteln.«
»Dann lass uns aufbrechen«, sagte Anyara mit einer Entschlossenheit, die nicht aus ihrem Herzen kam. Inurian legte ihr kurz die Hand auf die Schulter.
»Lass uns aufbrechen«, bekräftigte er. »Bleib in meiner Nähe und mach keinen Lärm!«
Der Na’kyrim , der sie durch das Acker- und Weideland führte, war Anyara völlig fremd. Vielleicht kam nun zum ersten Mal das Kyrininerbe zum Vorschein, das er all die Jahre auf Burg Kolglas unterdrückt hatte. Er bewegte sich vorsichtig und leise, aber mit schnellen, raumgreifenden Schritten. Wo Anyara überhaupt nichts sah, fand er Gräben und Heckenreihen, die ihnen Deckung boten, ja selbst kleinste Wellen in dem scheinbar ebenen Gelände. Wenn er stehen blieb, verschmolz er vollkommen mit dem Grau und Schwarz der Nacht, und sie bekam das Gefühl, völlig allein zu sein. Sie kämpfte gegen ihr Herzklopfen an und gegen die Stimme in ihrem Kopf, die sie zu wilder Flucht drängte. Mühsam konzentrierte sie sich darauf, Inurian zu folgen.
Von irgendwo aus dem Dunkel drang ein raues Bellen. Anyara wusste, dass es nur ein Fuchs war, aber ihr lief ein Schauer über den Rücken. Das Gelände wurde morastig, als sie ein Wäldchen umrundeten. Sie stolperte, und ihre Hände sanken tief in das schlammige Erdreich. Als sie sich hochrappelte, schwirrten ein paar Tauben aus dem Geäst über ihr in den Himmel. Inurian umklammerte ihren Arm.
»Wir müssen zum Fluss laufen!«, zischte er, und sein eindringlicher Tonfall schnürte ihr die Kehle zu.
»Warum?«, keuchte sie. »Wegen der Vögel?« Aber er hatte bereits entschlossen kehrtgemacht und rannte weiter in das Dunkel hinein. Sie heftete sich an seine Fersen. Der Gedanke, ihn aus den Augen zu verlieren, jagte ihr Angst ein.
Die Flucht entwickelte sich zum Albtraum. Jeder Buckel und jede Senke, jeder unsichtbare Graben und jedes Gebüsch, jede Wurzel und jede Brombeerranke wurden zur Falle. Anyara verlor jeglichen Richtungs- und Entfernungssinn. Sie lief, bis sie kaum noch Luft bekam und ihr Herz zu zerspringen drohte.
Sie stolperten durch Nesseln. Das Gras war jetzt länger und schlang sich um ihre Knöchel. Noch ehe Anyara den Fluss sehen konnte, verriet ihr ein unterbewusst aufgefangener Laut oder Geruch, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Niedrige Sträucher und ein schmaler Streifen hoher Schilfpflanzen säumten das Ufer. Dahinter glitzerte das Wasser im Mondlicht. Sie blieben stehen und schauten zurück, horchten. Die Nacht war vollkommen still.
»Wir schwimmen«, entschied Inurian atemlos. Beklommen wandte Anyara die Blicke dem schweigenden schwarzen Fluss zu, aber ihr blieb keine Zeit zum Überlegen. Inurian zog sie bereits ins Wasser.
»Schwimm schräg zur Strömung flussabwärts!«, zischte er ihr zu und stieß sich vom Ufer ab. Sie folgte ihm. Die kalte Umarmung des Flusses presste ihr die Brust zusammen; die Haut fühlte sich wie ein harter Panzer an. Die Strömung zerrte an ihr. Inurian schien von ihr fortzutreiben. Panik stieg in ihr auf. Sie konzentrierte sich auf ihre Schwimmzüge, versuchte trotz der Schwere der nassen Kleider und des unerbittlichen Wassersogs ihren Rhythmus beizubehalten. Endlich tauchte wieder Schilf aus dem Dunkel vor ihr auf. Eine blasse Hand griff nach ihr. Inurian half ihr aus dem Wasser, und sie mühte sich durch den Schlamm die Böschung hinauf. Keuchend lag sie im Gras.
»Keine Zeit zum Ausruhen!«, drängte Inurian und zerrte sie auf die Beine.
Sie wagte einen Blick nach hinten, konnte aber nichts erkennen.
»Wir müssen uns beeilen«, beharrte Inurian. »Wir müssen laufen.«
»Kommen sie?«, fragte Anyara. Er schlug einen Weg ein, der vom Fluss wegführte.
»Ich glaube, sie ist da. Ich glaube, ich kann sie finden.«
Sie schafften keine fünfzig Schritte. Anyara stürzte. Inurian half ihr beim Aufstehen. Sie hörte nichts als ein dumpfes Geräusch und Inurians kurzen, überraschten Aufschrei. Dann glitt ihr die Hand des Na’kyrim von der Schulter, und er sank auf die Knie.
»Tut mir leid«, murmelte er noch im Fallen.
Sie packte ihn, versuchte ihn zu stützen und drehte sich um. Immer noch sah sie nichts. Als sie nach seiner Jacke
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