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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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am zweiten Tag getötet, sie und ihren Hund. Es geziemte sich nicht für Huanin, die heiligen Stätten der Kyrinin zu betreten. Sie hatten den Leichnam nackt auf freiem Grund liegen lassen, wo ihn die Aasfresser schnell finden würden.
    Der Na’kyrim war die ganze Zeit über gefesselt geblieben. Sie hatten ihm die Arme auf den Rücken gebunden und ihn geknebelt, denn sie wussten, dass er mit falscher Zunge sprach. Die Lügen, die er vorbrachte, hatten die Macht, den Verstand des Zuhörers zu verdrehen. Und die Versprechen, die er gab, konnten im Herzen Gier entfachen, aber sie hatten nicht mehr Bestand als die Tautropfen, die auf einem Spinnennetz glitzerten. Sie hatten ihn zur Strafe für alle gebrochenen Versprechen und unerfüllten Hoffnungen hierhergebracht, während ihre Brüder und Schwestern den Feind in den Bergen jenseits des Tals jagten. Jeder von ihnen hätte lieber gegen die Füchse gekämpft, denn sie wussten, dass da ein Krieg entbrannte, wie es ihn noch nie gegeben hatte. Die verhassten Huanin hatten jahrhundertelang im Tal geherrscht und eine so mächtige Barriere zwischen Füchsen und Schleiereulen errichtet, dass nur kleine Stoßtrupps sie zu überwinden vermochten. Jetzt, da zwischen den Huanin-Stämmen neue Kämpfe entbrannt waren, stand das Tor weit offen. Vermutlich konnte man den Huanin vom Schwarzen Pfad ebenso wenig glauben und vertrauen wie allen anderen ihrer Rasse, aber sie hatten zumindest zugelassen, dass Hunderte von Schleiereulen ins Land der Feinde eindrangen. Ihre Speere würden die Herzen der Füchse durchstoßen und in ihrem Blut baden.
    Dennoch – alle Verheißungen von Freundschaft, Bündnissen und Gewinn, die dieser Na’kyrim zu den Schleiereulen getragen hatte, waren geschmolzen wie Schnee in der Zeit der aufbrechenden Knospen. Die Krieger hatten mit eigenen Augen gesehen, wie der Häuptling der Huanin den Na’kyrim niederschlug und verfluchte, wie er ihn von seinen Ratsversammlungen fernhielt und ihm sein Vertrauen entzog. Wo waren die Rinder und das Eisen, das man ihnen versprochen hatte? Warum standen immer noch Dörfer und Hütten der Huanin auf dem baumfreien Land, das die Vorfahren an den Nordflanken des Antyrin Hyr geschaffen hatten? Warum hatten sich die Huanin-Herrscher gegen die Schleiereulen gewandt, nachdem ihnen so große Hilfe zuteilgeworden war? Für all dies war man ihnen Rechenschaft schuldig. Der Na’kyrim war das Kind einer Schleiereulen-Mutter. Sie hatten ehrlich mit ihm verhandelt und ihre Versprechen gehalten, wie sie es bei einem Angehörigen ihres Volkes getan hätten. Er sollte sich dafür verantworten, dass die Abkommen gescheitert waren.
    Sie befanden sich nun noch einen Tagesmarsch von ihrem Ziel entfernt. Die Erste Fährte, der sie folgten, würde geradewegs – und nur für Kyrinin-Augen sichtbar – in eine bewaldete große Senke führen, quer durch das sumpfige Tiefland, das sich unter der Laubkuppel erstreckte, und weiter bis zum Herzen ihres Clans, dem ältesten und größten Vo’an der Schleiereulen. Das Lager befand sich auf dem flachen, nach Süden gelegenen Hang eines mit Eichen und Eschen bestandenen Tals. Seit vielen Lebensaltern hatten sich dort jeden Winter Hunderte von Stammesangehörigen versammelt, um die kalten Monate zu überdauern. Die Zelte lagen weit verstreut und halb verborgen unter den ehrwürdigen Bäumen, die sie beschirmten und bewachten.
    Die Stimme der Schleiereulen war wohl wie immer eine der ersten, die in jenem Lager eintraf. Das große Kuppelzelt, das aus vielen Schichten von Tierhäuten bestand und der Stimme als Winterquartier diente, würde längst stehen und den Mittelpunkt der Gemeinschaft bilden, die im Lauf der Tage und Wochen stetig wuchs. Sie schlief dort und aß dort und sprach ihre Urteile. Sie lauschte den Gesängen, die auf dem freien Platz vor ihrer Unterkunft dargeboten wurden, und sie sah zu, wie die Kakyrin ihre Knochenpfähle errichteten und aus Hasel- und Weidenzweigen das Anhyne flochten. Wenn sie träumte, wisperten die Ahnen in ihren Gedanken, denn sie wussten stets, wo sich die Stimme aufhielt. Manchmal setzte sie, erfüllt von der Weisheit der Alten, ihre Maske und die Krone aus weißen Federn auf und wandelte wie ein fremdes Wesen unter ihrem Volk. Gegen Ende des Winters, wenn die Knospen der Schwarzesche aufsprangen, konnte es geschehen, dass man eine neue Stimme für den Clan wählte, aber nichts würde sich ändern. Im Jahr darauf würde die Stimme, ob alt oder neu, wieder im Tal

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