Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Suche nach dem Kapitän von Tal Dyre. Obwohl es keiner von ihnen erwähnte, bemerkten sie alle die vierschrötigen, mit Schlagstöcken bewaffneten Männer, die sich ihnen an die Fersen hefteten, ohne einen Hehl daraus zu machen.
Abgestandene warme Luft und Bierdunst schlugen ihnen aus dem Halbdunkel der Schenke entgegen. Es gab ähnliche Tavernen in den ärmeren Vierteln von Glasbridge oder Anduran, aber weder Orisian noch Anyara hatten je ein solches Haus aufgesucht. Das geziemte sich einfach nicht für Familienangehörige des Thans. Die beiden blieben auf dem Gehsteig vor dem Eingang stehen, während Rothe ohne Zögern über die Schwelle trat.
»Erwidert keinerlei Blicke!«, flüsterte er. »Aber möglichst unauffällig.«
Anyara sah Orisian mit hochgezogenen Augenbrauen an.
In der Wirtsstube hielten sich nur wenige Gäste auf, und ein Teil davon lümmelte betrunken oder schlafend an den Tischen. Eine erschöpfte Schankmagd, dünn und blass, sah sie hereinkommen, machte aber keine Anstalten, sie zu begrüßen oder ihnen etwas anzubieten. Die Dielenbretter knarrten unter Orisians Schritten.
Eldryn Delyne war weniger prunkvoll gekleidet als damals im Haus des Hafenmeisters von Glasbridge. An jenem von Kiefernduft und Weinwärme erfüllten Abend vor dem Winterfest hatte ihn der Kapitän mit seiner Eleganz tief beeindruckt; nun trug er die einfache Kleidung eines Matrosen. Dennoch, sein blondes Haar war sauber und sein Bart ordentlich gestutzt.
Er saß mit zwei Männern seiner Schiffsmannschaft vor einem Krug mit schäumenden Bier. Auf seinen Zügen zeigte sich Verblüffung, als er Orisian erkannte.
»Ein unerwartetes Zusammentreffen«, sagte der Händler. Die abgehackte Sprechweise von Tal Dyre klang in seinen Worten deutlich durch. »Und wenn ich die Ähnlichkeit richtig auslege, könnte dies die Schwester sein, von der ich hörte. Der letzte Aufenthaltsort für Angehörige des Hauses Lannis-Haig!«
Orisian schaute sich hastig um, aber niemand beachtete sie. Die wenigen Einheimischen in Hörweite waren kaum in der Lage, sie zu belauschen. Er sah, dass Rothe unauffällig die übrigen Gäste der Schenke im Auge behielt.
»Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr unsere Namen für Euch behalten könntet«, murmelte er. »Niemand kennt uns hier, und das sollte so bleiben.«
Belustigt zog Delyne eine seiner hellen Augenbrauen hoch.
»Fühlen wir uns bei den Herrenlosen nicht besonders wohl? Verständlich. Kein gutes Pflaster für Lannis-Haig-Flüchtlinge.«
»Vielleicht«, sagte Orisian. »Aber wir hoffen, dass unser Aufenthalt hier nicht mehr allzu lange dauert. Ich war ebenfalls überrascht, Euer Schiff zu sehen. Ich dachte, Ihr befändet Euch mittlerweile längst auf dem Rückweg in den Süden.«
»Ach, wenn Wünsche Flügel hätten!« Delyne seufzte tief. »Die Musik und die lauen Winde von Tal Dyre wecken süße Sehnsucht, aber der Handel kennt kein Erbarmen. Es gibt weder Rast noch Annehmlichkeiten für mich und die Meinen, bis alles erledigt ist, was erledigt werden muss. Nach unserer letzten Begegnung steuerte ich den Hafen von Kolkyre an. Und was fand ich in dieser Stadt des Wohlstands? Das heiße Begehren nach edlen Fuchspelzen und verzweifelte Kürschner, die den Bedarf nicht mehr decken konnten. Da stand ich nun, wohl wissend, dass es im kalten Koldihrve Felle genug und zu annehmbaren Preisen gab, und beschloss, eine letzte Handelsfahrt zu unternehmen, ehe der Winter richtig zubeißen und mir die Heimkehr verwehren konnte.«
»Dann brecht Ihr also bald nach Süden auf?« Orisian bemühte sich, seiner Frage einen beiläufigen Klang zu verleihen.
Der Kaufmann von Tal Dyre nickte. »Zurück nach Kolkyre. Nicht mehr das, was es einmal war, sagen manche, aber immer noch eine schöne Stadt.«
»Und hättet Ihr Platz für Passagiere?«, fragte Anyara. Orisian lehnte sich zurück und beobachtete den Kapitän, der seine Schwester prüfend ansah.
»In meinem Laderaum stapeln sich Häute und Felle«, meinte er nachdenklich. »Nicht gerade behaglich für eine Dame.«
»Wir hatten seit der Winterwende keine Behaglichkeit mehr, Kapitän, und könnten noch eine Weile länger darauf verzichten.«
Delyne schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. Orisian bemerkte zum ersten Mal, wie weiß seine Zähne waren.
»Aye, wahrscheinlich. Ich hörte etwas läuten, bevor ich Kolkyre verließ. Dass böse Zeiten über Euer Land hereingebrochen seien. Traurige Tage. Dennoch – der Platz, den Ihr einnehmt, ist für meine
Weitere Kostenlose Bücher