Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
das an Orisians Heimat grenzte. Kleine Boote lagen kreuz und quer herum, ein Stück an Land gezerrt und festgebunden. Koldihrve befand sich auf dem höchsten Punkt des lang gestreckten, gewundenen Mündungsgebiets, das die Stadt vor den Stürmen von der offenen See her schützte und die Molen überflüssig machte, die in Kolglas und Glasbridge als Wellenbrecher dienten. Es gab nur einige schlichte hölzerne Landestege. Aus Treibholz errichtete, wacklige Hütten säumten den Strand.
Was Orisians Aufmerksamkeit jedoch stärker als alles andere fesselte, war das Schiff, das zwei- bis dreihundert Schritte entfernt sanft schaukelnd vor Anker lag. Er wusste ganz sicher, dass er es schon einmal gesehen hatte. Es war der Kauffahrer von Tal Dyre, der vor dem Fest der Winterwende am Kai von Glasbridge gelegen hatte und in dieser elenden, rückständigen Hafenstadt irgendwie fehl am Platz wirkte.
Die Hütte des alten Hammarn gehörte zu den besseren Bauwerken in Strandnähe. Sie bestand aus verwittertem, aber robustem Holz, und ein hoher Flechtzaun schützte sie gegen Gischt und die Stürme, die vom Meer her kamen.
Hammarn selbst war ein ungepflegter, ziemlich verschrumpelter Mann mit zottigem schneeweißen Haar. Die von tiefen Falten und Pockennarben geprägte Haut war wohl Teil seines Huanin-Erbes. Obwohl ihm anzusehen war, dass er ein hohes Alter besaß, bewegte er sich kraftvoll und geschmeidig wie ein Jüngling.
Mit fröhlicher Begeisterung nahm er sie in sein kleines Haus auf, und noch bevor sie sich richtig in das einzige, chaotisch vollgestopfte Zimmer gezwängt hatten, wühlte er schon in einem Haufen seltsamer Stecken und Treibhölzer herum. Mit großem Schwung zerrte er einen kurzen, dicken Prügel hervor und drückte ihn Anyara in die Hand.
»Flechtbandschnitzereien!«, rief er mit brüchiger Stimme. »Ist erst letzte Woche fertig geworden. Eine meiner besten Arbeiten, glaube ich.«
Verwirrt drehte Anyara das Stück in den Händen. Orisian schaute genauer hin und entdeckte fein geschnitzte Figuren, die sich wie verschlungene Bänder um das Holz wanden.
»Saolin, seht ihr?« Hammarn stieß den Gegenstand mit krummen Fingern an. »Läuft rundum. Beginnt mit dem Siegel und endet mit dem Pferd.«
»Aha«, murmelte Anyara.
»Altes Kunsthandwerk, die Flechtbandschnitzerei. Wird hierzulande vor allem von Fischern ausgeübt. Saolin ist ein häufiges Thema, aber dies hier stellt ein Einzelmotiv dar, keine Geschichte. Für Geschichten brauche ich mehr Holz, sonst sieht es nichts gleich. Aber gut, dieses Stück, finde ich. Die besten kamen natürlich aus Kolkyre. Früher jedenfalls.«
»Hammarn!«, mahnte Yvane leise. Der Alte schaute von einem zum anderen, als sei er nicht ganz sicher, wer ihn angesprochen hatte. Dann grinste er erwartungsvoll. Seine schiefen Zähne wiesen braune Flecken auf. Er hatte den Blick eines Kindes, das um ein Lob bettelt.
»Halt inne, Hammarn!«, rief Yvane. »Deine Gäste haben einen weiten Weg hinter sich.«
»Ja doch.« Der Alte wirkte zerknirscht. »Es ist aber auch zu aufregend, wenn ich einmal Besuch kriege. Kommt nicht oft vor.« Er scharrte mit den Füßen und blickte Anyara verlegen an.
»Das ist doch nicht weiter schlimm«, sagte sie lächelnd und reichte ihm die Schnitzerei zurück. Er nahm sie mit höflichem Nicken in Empfang.
Orisian schaute sich um. In der Hütte stapelten sich Holz und Kleidungsstücke, Steine und Treibgut, das Hammarn am Strand aufgelesen hatte. An einer Wand stand eine Drehbank, halb verdeckt von einem Haufen schmutziger Segelleinwand. Ein offenbar seit Jahren nicht mehr benutztes Fischernetz hing schlaff an einer anderen Wand. Orisian fragte sich, wie er und seine Gefährten hier Platz finden sollten – falls Yvane das im Sinn hatte.
Nach längerem Herumkramen entdeckte Hammarn etwas Brot, das nicht mehr ganz frisch zu sein schien. Sie bissen lange darauf herum, bis es einigermaßen weich war. Hammarn selbst aß nichts, sondern beobachtete sie und ahmte lautlos ihre Kaubewegungen nach. Orisians Blicke wanderten erneut umher, während er die widerspenstige Kruste zu zerkleinern versuchte. Hier und da entdeckte er in dem Durcheinander Dinge, die Erinnerungen auslösten und dem Ort etwas unerwartet Vertrautes gaben. Ein Sack aus Netzgewebe hing in einer Ecke, gefüllt mit fest verschlossenen Tonkrügen und Tiegeln. Ob sich darin die gleichen fremdartigen Kräuter und Pulver befanden, die Inurian so unermüdlich gesammelt hatte? Hinter der Drehbank sah
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