Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
auf ihn deutete.
»Ihr werdet im Turm verlangt«, sagte er.
»In welchem Turm?«
»Wo Tomas Gericht hält«, murmelte Yvane.
»Er wird verlangt, nicht du«, knurrte Ame sie an. »Du lässt dich nicht blicken, wenn du auch nur einen Funken Verstand im Kopf hast.«
»Mit Vergnügen«, entgegnete Yvane beißend.
Rothe hatte sich an Hammarn vorbeigeschoben und trat nun auf den Weg heraus. Er war einen guten Kopf größer als Ame und beugte sich bedrohlich nahe zu dem Zweiten Wächter hinunter.
»Findet Ihr es klug, mit Befehlen um Euch zu werfen, ohne zu wissen, mit wem Ihr es zu tun habt?«, fragte er.
»Ist schon gut, Rothe«, warf Orisian rasch ein. »Wir wollen keinen Streit. Nicht jetzt. Du und ich, wir begleiten die Männer.«
Einen Moment lang befürchtete er, sie könnten darauf bestehen, dass auch Anyara mitkam – sie wussten bestimmt, dass sie drinnen war, da sie die Hütte ständig beobachtet hatten –, aber Ame schien zufrieden. Orisian stellte fest, dass er sich hoch aufrichtete, wohl um den Abstand zu Rothe ein wenig zu verkürzen.
Sie schritten schweigend durch die dunkle Stadt. Der Tag hatte sich vollends verflüchtigt; nur durch die Fensterläden sickerte ein wenig Licht. In Koldihrve herrschte Stille. Aus den Häusern drang der schwache Geruch von Holzfeuer und Braten.
Ame ging voraus, mit wichtigtuerischen Schritten, die ein wenig lächerlich wirkten. Die Behausung des Obersten Wächters war das einzige Steingebäude in der ganzen Stadt, ein bröckeliger alter Rundturm, der drei Stockwerke hoch aufragte. Irgendwann hatte man ihn mit einem Saal und einem Wohnhaus aus Holz umgeben, sodass er nun inmitten der Anbauten wie ein dicker Steinfinger in die Höhe stach.
Orisian und Rothe mussten in einem muffigen Kämmerchen warten. Stimmen drangen aus dem benachbarten Saal zu ihnen herein. Wie es schien, speisten und tranken Koldihrves Wächter üppig. Rothe war anzumerken, dass ihm die Geduld alsbald zu reißen drohte.
»Sobald ich mit diesem Tomas gesprochen habe, kehren wir zu den anderen zurück«, sagte Orisian. »Es wird nicht lange dauern.«
Sein Leibwächter kratzte sich geistesabwesend am Bart. »Es geht einfach nicht an, dass uns Herrenlose nach Belieben hierhin und dorthin schleppen«, murmelte er.
»Halte noch bis morgen durch! Es ist jetzt vordringlich, dass wir sicher auf dieses Schiff gelangen.«
Ame kehrte zurück. Er hatte den Helm abgelegt und den Speer mit einem in Bratenfett getunkten Brotkanten vertauscht. Damit deutete er nun auf Orisian. »Der Oberste Wächter ist bereit, Euch zu empfangen.«
Rothe erhob sich ebenfalls, aber Ame winkte ab. »Der Wachhund kann hierbleiben, sage ich.«
»Da bin ich anderer Ansicht«, knurrte Rothe.
»Ich rede mit ihm«, beschwichtigte ihn Orisian. Er war erstaunt über die Ruhe, die sich in seinem Innern ausbreitete. Das alles kam ihm so unwichtig vor, ein kleines Hindernis auf dem Weg zu Delynes Schiff, das es beiseitezuräumen galt. »Warte hier auf mich!«
Rothe sah ihn zweifelnd an, ließ sich aber wieder auf der Bank nieder.
Der Empfangsraum des Obersten Wächters war schlicht und spärlich eingerichtet. Tomas selbst war ein schmaler, knorriger Mann, der auf einem niedrigen Sessel Platz genommen hatte und Orisian scharf musterte. An der Wand hinter ihm hing ein Wolfsfell. Tomas deutete auf einen Hocker.
»Was ich so höre, gibt es Unruhen in den Bergen«, begann Tomas, als Orisian sich gesetzt hatte. Sein Atem kam stoßweise und rasselnd aus verschleimten Lungen. »Die Schleiereulen und die Füchse scheinen sich mächtig in der Wolle zu haben. An sich keine große Überraschung, aber diesmal liegt die Sache irgendwie anders. Sieht ganz so aus, als würden auch Menschen mitmischen. Nun verstehen die Füchse nicht allzu viel von solchen Angelegenheiten, aber ich als Oberster Wächter kann zwei und zwei zusammenzählen. Und als mir zugetragen wird, dass da draußen Huanin sind, bei denen Weiber an der Seite von Männern kämpfen, denke ich sofort an den Schwarzen Pfad. Seltsame Zeiten, in denen die Krieger von Kan Dredar den Car Criagar durchstreifen.«
»Wir mussten vor ihnen fliehen.« Orisian hatte insgeheim beschlossen, nicht mehr als unbedingt nötig zu verraten. »Nur ein glücklicher Zufall brachte uns hierher. Füchse wiesen uns den Weg. Ohne sie wären wir nicht mehr am Leben.«
Die letzten Worte fügte er hinzu, weil er hoffte, dass sie hier, wo Huanin und Kyrinin nur durch einen Fluss getrennt waren, ein besonderes
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