Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
das Schleiereulen oder Füchse?«, fragte Kanin.
Niemand antwortete. Die Entfernung war zu groß, um das zu erkennen.
»Waldelfen!«, rief Kanin zornig. Selbst jetzt, da er geglaubt hatte, sie endlich los zu sein, machten ihm die kleinlichen Stammeskämpfe zu schaffen, die Aeglyss und seine Wilden in Gang gesetzt hatten.
»Vermutlich Schleiereulen«, meinte Igris, der mit zusammengekniffenen Augen durch die Regenvorhänge blinzelte. »Sie haben es wohl auf dieses Lager der Füchse an der Flussmündung abgesehen.«
Kanin schwang sich in den Sattel. Regen trommelte ihm auf Kopf und Rücken. Auch die anderen saßen in aller Eile auf. Schreie und Waffengeklirr erfüllten die Luft. Er hörte nichts davon, sondern sprengte in Richtung Koldihrve los. Die Zukunft lag dort, erwartete ihn dort. Das blanke Schwert in der Faust, ritt er ihr entgegen.
VIII
Hinter dem Zelt, in dem die Stimme der Schleiereulen wohnte, brannte das Torkyr in einer steingesäumten Grube unter einem Dach aus Eichenbalken, die durch den Rauch und die Hitze im Lauf der Zeit hart wie Stein geworden waren. Tag und Nacht, trotz Schnee und Wind, würde das Clan-Feuer brennen, den ganzen Winter hindurch, genährt und gehütet von auserwählten Wächtern. Wenn der Frühling kam und die Stimme über den Flammen gesungen hatte und das Volk sich wieder zerstreute, würde jedes A’an ein einzelnes brennendes Scheit mitnehmen, damit auf den Sommerwanderungen durch Anlane in allen Lagerfeuern ein Funke der hellen Clan-Seele leuchtete.
Zum Zelt der Stimme brachten die Krieger Aeglyss, den Na’kyrim , mit Lederriemen gefesselt und geknebelt. Sie banden ihn an einen Liederstab, der vor dem Zelt aufragte, setzten sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und warteten. Sie warteten viele Stunden lang. Die Sonne wanderte über den Himmel. Wolken, die zerfetzten Gewänder des Wandelnden Gottes, kamen und gingen. Der Na’kyrim stöhnte. Er blutete an den Handgelenken und Mundwinkeln, wo die Lederriemen tief in die Haut einschnitten. Schließlich trat ein kleines Mädchen mit beerenrot gefärbten Haaren und Löchern in den Wangen aus dem Zelt und winkte einen der Krieger nach drinnen. Nach einer Stunde tauchte er wieder auf und nickte langsam. Man nahm dem Na’kyrim die Fesseln und den Knebel ab und brachte ihn zu der Stimme.
Sie war eine ältere Frau. Von den Jahren war ihre Haut gewelkt und ihr Haar gebleicht, sodass es wie Mondlicht auf Wasser schimmerte. Im Zelt befanden sich außer ihr die Weisen, die A’an -Häuptlinge des vergangenen Sommers, die Sänger und Erzähler und Totengräber sowie die Kakyrin mit ihren Knochenketten – aber nur die Stimme sprach mit dem Na’kyrim .
Sie redeten lange, die alte Frau und das Halbblut, und sie redeten über vieles. Sie sprachen über die Geschichte des Clans und seine Kämpfe gegen die Huanin im Krieg der Befleckten und in den Jahrhunderten danach.
Sie sprachen über die Schandtaten jener, die in der Stadt im Tal herrschten, über ihre Äxte und Feuer, welche die Wälder im Land der Kyrinin zerstörten, und ihre Viehherden, die immer weiter nach Anlane vordrangen; sie sprachen über das Leben des Na’kyrim , seine Flucht von den Schleiereulen, als er noch ein halbes Kind war, und seine späte Rückkehr mit Geschenken und Versprechen der kalten Krieger aus dem Norden. Und während sie redeten und redeten, entstand allmählich das Urteil, gebildet aus den Fäden der Vergangenheit, die in die Gegenwart reichten. Erst ganz am Ende sprachen sie über Bündnisse, geschmiedet aus der Not, und von betrogenen Hoffnungen und Erwartungen.
Die Stimme fragte ihn leise, weshalb der Herrscher, dessen Heer durch den Wald der Schleiereulen gezogen war, sich nun von seinen Freunden abwandte und sie vergaß. Weshalb die Freundschaft, die der Na’kyrim im Namen jenes Herrschers in Aussicht gestellt hatte, nun nur noch Schall und Rauch sei. Der Na’kyrim wusste keine Antwort darauf und nahm stattdessen Zuflucht zu seinen bösen Zauberworten. Er verwendete, wie so oft zuvor, als ihn die Schleiereulen noch nicht durchschaut hatten, eine Sprache, die Lügen als Wahrheit erscheinen ließ, den Geist verwirrte und das Urteilsvermögen so umkehrte, dass man Unrecht für Recht hielt. Wären nicht so viele von ihnen im Zelt der Stimme gewesen, hätten sie sich vielleicht täuschen lassen, aber sie hatten sich auf die Gefährlichkeit dieses Na’kyrim vorbereitet. Manche schrien auf und sangen, um seine giftigen Worte zu übertönen;
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