Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Tanwrye hatten sie die Streitmacht von Horin-Gyre in die Flucht geschlagen. Als er nun die Worte des völlig erschöpften Boten vernahm, umgeben vom Glanz und von der Üppigkeit eines Festbanketts, das ein jähes Ende fand, noch ehe es begonnen hatte, fühlte sich Croesan in seine Jugend zurückversetzt. Nichts hatte sich seit jener Zeit verändert. Wieder musste der Than mit seinen Kriegern von Anduran aus nach Norden reiten, um sich dem alten Feind seines Hauses entgegenzustellen.
Keine Stunde war seit der Ankunft des Boten vergangen, als zweihundert Krieger – die halbe Garnison der Stadt – durch das Nordtor von Anduran marschierten und Croesans Reiter die Höfe im Umland aufsuchten, um die Leute an die Waffen zu rufen. In spätestens zwei Tagen würde er mit zusätzlichen fünfhundert Mann nach Tanwrye aufbrechen. Aber es sollte anders kommen.
Mitten in der Nacht suchte ein Angehöriger der Leibgarde den Than auf. Croesan hatte sich mit Naradin und seinen Hauptleuten in einem Raum hoch droben im Wohnturm eingeschlossen. Sie schmiedeten Pläne, die nie mehr in die Tat umgesetzt wurden.
»Da draußen steht ein Bauer, Mylord«, sagte der Mann ernst. »Wir schickten ihn zunächst weg, aber er kam wieder, in Begleitung von anderen, die alle die gleiche Geschichte erzählen. Nur aus diesem Grund …«
»Wovon redest du?«, fragte Croesan unwirsch. Von seiner guten Festtagslaune war längst nichts mehr übrig.
Ein völlig aufgelöster Mann mit verfilztem Haar und zerzaustem Bart versuchte sich an den Schildwachen vorbei über die Schwelle zu drängen.
»Der Schwarze Pfad, Sire!«, stieß er hervor. »Tausende von Kriegern strömen aus dem Wald von Anlane! Sie brennen Höfe und Häuser nieder!«
Am Beratungstisch erhob sich ein ungläubiges Gemurmel. Die Leibgarde des Thans packte den Mann und zerrte ihn aus dem Raum.
»Mein eigener Hof stand am Waldrand, Herr!«, schrie der Bauer. »Er fiel ihnen gleich zu Beginn in die Hände.«
Croesan wandte sich an den Anführer der Schildwache. »Ihr sagt, es gibt andere, die genau die gleiche Geschichte erzählen?«
Und rasch wurde ihnen klar, dass der Mann die Wahrheit gesprochen hatte. Bauernknechte und Viehhirten, Holzfäller und Jäger kamen nach Anduran, um den Verderben bringenden Horden zu entrinnen. In den ersten Abendstunden war ein Heer unter der schützenden Kuppel des Waldes hervorgebrochen und auf die freien Fluren hinausgestürmt. Irgendwie hatte es der Feind geschafft, das riesige Herrschaftsgebiet der Schleiereulen-Kyrinin zu durchqueren, die weglose Wildnis von Anlane zu überwinden und ein Heer bis in Reichweite von Anduran zu führen – eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit.
Ganze Familien strömten noch während der Nacht auf Karren, Fuhrwerken und klapprigen Gäulen in die Stadt, um hier Schutz zu suchen. Furcht fraß sich durch die Dunkelheit in die Herzen. Ob arm oder reich, bescheiden oder mächtig, alle gelangten zu dem Schluss, dass ihnen nur die Mauern der Stadt Sicherheit boten. Die Städter ihrerseits suchten ihr Heil ebenfalls in der Flucht. Und so bewegte sich im Frühlicht des ersten Wintertags ein dichter Menschenstrom südwärts auf Glasbridge zu. Im gleichen Frühlicht erblickte man von den Burgwällen aus ein Heer.
Von diesem Augenblick an hatte Croesan gewusst, dass zumindest die Stadt verloren war. Tanwrye galt als das große Bollwerk seines Hauses gegen den Schwarzen Pfad, als zuverlässige Barriere der Marschroute durch das Tal der Steine. Dagegen befanden sich die Wälle Andurans in einem schlechten Zustand, und die halbe Garnison – ohnehin geschwächt, weil Gryvan oc Haig ständig mehr Krieger anforderte – war unterwegs nach Tanwrye. Croesans Burg mochte einem Ansturm gerade noch standhalten; von Anduran selbst ließ sich das nicht behaupten.
Gleichzeitig kam ihm zu Bewusstsein, dass er und sein Stamm Dinge verlernt hatten, die früher eine Selbstverständlichkeit gewesen waren. Der lange Frieden hatte verhängnisvolle Gedächtnislücken geschaffen. Sie hatten vergessen, dass sie nur dann gegen die unversöhnlichen Anhänger des Schwarzen Pfads bestehen konnten, wenn in ihrem Herzen und in ihrem Blut das gleiche Feuer brannte wie in den Bewohnern des Nordens. Sie hatten vergessen, dass sie niemals in ihrer Wachsamkeit nachlassen durften, auch wenn Croesan geglaubt hatte, die Gefahren stets deutlich vor sich zu sehen. Nun, da er die bittere Asche von Anduran schmeckte und wusste, dass die Hälfte der Einwohner geflohen
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