Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
in die Stille schraubten und mit großen Schwingen davonflogen.
Ringsum waren die Inkallim damit beschäftigt, ihr Nachtlager aufzuschlagen. Sie hatten auf einer Lichtung in Kammnähe eines Höhenzugs angehalten, wo das Land plötzlich aus den bewaldeten Hügelflanken auftauchte wie ein Walbuckel aus den Meereswogen.
Dann kniete Aeglyss neben ihr. Er beugte sich vor, bis sein Gesicht über ihr zu schweben schien. Sie starrte in seine grauen Augen und konnte nichts darin lesen. Er rollte sie herum und zerschnitt ihre Fesseln mit einem Messer. Ein plötzlicher Schmerz, gefolgt von Hitzewogen, pulsierte durch ihre wund gescheuerten Gelenke.
»Aufstehen!«, befahl Aeglyss und zerrte sie hoch.
Sie schwankte. Ein Arm umfing ihre Taille und stützte sie. Jetzt erst merkte sie, dass Inurian neben ihr stand.
»Da!«, sagte Aeglyss.
Sie verstand nicht, was er meinte. Erschöpft, wie sie war, ließ sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen Inurian sinken. Sein Arm bot ihr Halt. Dann packte Aeglyss sie grob an der Schulter und stieß sie vorwärts.
»Da!«, zischte er und zeigte nach vorn.
Ihre Blicke folgten der Richtung seines ausgestreckten Arms. Der Wald vor ihr fiel schräg ab und ging schließlich in flacheres Gelände über. Sie schaute über das Dach von Anlane hinweg. Schwindel erfasste sie. Die Baumkronen erstreckten sich bis fast an die Sichtgrenze. Nur weit im Norden deutete ein Streifen Grau offenes Land an, und noch weiter entfernt, so verschwommen, dass man ihn für einen Schatten halten konnte, ragte der Car Criagar über dem Tal des Flusses Glas auf.
»Was?« Sie hatte das Gefühl, mit der Stimme einer Fremden zu sprechen.
Inurian stützte sie stärker, und sie fragte sich weshalb.
»Der Rauch«, sagte Aeglyss.
Sie spähte angestrengt nach vorn, bis sie die schwarze Rauchwolke sah, die zwischen dem Wald und den Bergen in den Himmel aufstieg. Und ihr dämmerte, dass irgendwo am Fluss ein gewaltiges Feuer lodern musste.
»Ich verstehe nicht …«, murmelte sie.
»Ihr werdet schon noch verstehen.« Aeglyss lachte und entfernte sich.
Sie studierte Inurians Züge. Er starrte nach Norden. Dann senkte er mit einem Seufzer den Kopf.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, wohin sie uns bringen. Da vorn liegt Anduran, Anyara. Anduran brennt.«
III
Beißender Rauch erfüllte die Luft. Der Wind nahm ihn in der Stadt auf und spann ihn um die Burg. Die Sonne war eine blasse Scheibe hinter einem grauen Schleier. Croesan oc Lannis-Haig starrte der Asche von Anduran nach, die wirbelnd in den Himmel stieg.
Er stand auf der höchsten Plattform des Wohnturms. Irgendwo weiter unten hatten sich seine Berater und Hofbeamten versammelt, um die Lage zu besprechen. Alle waren zunächst hier heraufgekommen, um Ausschau nach dem Ursprung des Brandgeruchs zu halten, aber er hatte die anderen nach einer Weile fortgeschickt. Er allein blieb, gefesselt vom Anblick der Feuersbrunst, die seine Stadt zerstörte. Hier und da schlugen Flammen aus den Häusern, doch der Qualm deckte fast alles zu. Er brodelte, als atme die Erde selbst in gewaltigen Stößen aus. Seltsamerweise war kaum etwas zu hören außer dem fernen Knistern von Feuern und einem gelegentlichen Donnergrollen, wenn eines der Gebäude einstürzte. Keine Rufe, keine Schreie, keine flüchtenden Schritte in den Gassen. Diese unheimliche Stille verlieh Croesans Trauer einen besonderen Hauch von Morbidität. Es schien, als sei die Stadt bereits tot, und man verbrenne lediglich ihren Leichnam.
Sie hatten sich gerade in der neuen Großen Halle auf dem Vorplatz eingefunden, als der Bote eintraf. Croesan war so glücklich wie seit Langem nicht mehr gewesen, erfüllt von einer inneren Leichtigkeit und Vorfreude, wie sie sonst nur Kinder empfanden. Die Halle füllte sich mit Hunderten von Menschen, alle gut gelaunt, alle fröhlich plaudernd, während sie auf den großen Festschmaus zum Winterfest warteten. Dann war der Bote gekommen und hatte alles zerstört.
Der Reiter kam von Tanwrye und hatte den langen Weg ohne Unterbrechung zurückgelegt. Er brachte die Kunde, dass Krieger durch das Tal der Steine südwärts zogen, um die Blutfehde zwischen den Stämmen des Schwarzen Pfads und den Wahren Geschlechtern zu erneuern. Es war jetzt mehr als dreißig Jahre her, seit die verfeindeten Heere zum letzten Mal gegeneinandermarschiert waren. Damals, als Siebzehnjähriger, war Croesan an der Seite seines Vaters und seines Bruders zum ersten Mal in eine Schlacht geritten. Vor den Toren von
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