Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
lebten, als riesige, bluttriefende Inkarnationen des Todes selbst herumspukten.
Anyara fragte sich, wie viele Feinde diese schlanke, drahtige Gestalt, die vor ihr hermarschierte, wohl schon getötet hatte. Bei den Haig-Stämmen war es nicht üblich, dass Frauen zu den Waffen griffen. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass dies nicht nur bei den Inkallim, sondern bei allen Angehörigen des Schwarzen Pfads eine Notwendigkeit und daher etwas ganz Alltägliches gewesen war: Sie mussten in den frühen Jahren der Verbannung jeden Mann und jede Frau einsetzen, um die wilden Tarbain-Stämme jenseits des Tals der Steine zu bezwingen und zugleich das Verfolgerheer des Hoch-Thans von Kilkry abzuwehren. Doch was immer der Grund sein mochte, es war ein Beweis für die harten Anforderungen, die der Schwarze Pfad an seine Anhänger stellte.
Sie legten eine kurze Rast ein, und Anyara setzte sich, den Rücken gegen einen Baum gelehnt. Man bewachte sie und Inurian getrennt. Einer der Inkallim brachte ihr einige trockene Kekse und löste ihre Handfesseln, damit sie essen konnte. Als er fort war, betrachtete sie die Striemen und wund gescheuerten Stellen an den Gelenken. Sie brannten, aber der Schmerz war erträglich.
Anyara ließ den Kopf nach hinten gegen den Baumstamm sinken. Durch das Gewirr der kahlen Zweige sah sie schwere graue Wolken über den Himmel ziehen. Sie bedeuteten Regen. Die Tage nach der Winterwende waren im Tal des Glas häufig verregnet. Ein dunkler Schatten, der durch das Geäst huschte, lenkte sie von ihren Gedanken ab. Sie legte den Kopf noch weiter in den Nacken und entdeckte, gut verborgen in der Baumkrone, einen schwarzen Vogel, der von einem Zweig zum nächsten hüpfte – eine Krähe. Etwas zwang sie, das Tier genauer zu betrachten. Die Krähe saß wippend auf einem Ast. Und plötzlich war sich Anyara vollkommen sicher, dass es sich um Inurians Krähe Idrin handelte. Sie setzte zum Sprechen an und schwieg dann. Ihre Blicke schweiften umher. Inurian saß etwa dreißig Schritte von ihr entfernt. Er beobachtete sie. Sie hob die Augenbrauen, unschlüssig, ob sie ihm eine Botschaft übermitteln sollte. Sie konnte nicht sicher sein, aber sie glaubte ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen – und dann ein Blinzeln, so flüchtig, dass es jedem Außenstehenden entging. Gleich darauf wandte er sich ab.
Die Stunden flossen ineinander. Sie verlor ihren Richtungssinn. Wolkenbänke verdunkelten nachts die Sterne und bedeckten während des Tags die Sonne. Sie fröstelte, hatte Schmerzen und schlief schlecht. Hin und wieder ritt Aeglyss neben ihr her und beobachtete sie mit herausforderndem Schweigen. Sie beachtete ihn nicht und mied seine seltsamen Augen.
In jenen langen, einsamen Stunden auf dem Pferderücken drangen düstere Gedanken und Bilder auf sie ein, denen sie hilflos ausgeliefert war. Ihr Vater hatte an jenem Abend im Bankettsaal gelacht, als die Gaukler aufgetreten waren. Er war glücklich gewesen. Sie sah sein Gesicht vor sich, wenn sie die Augen schloss. Sie sah ihn aber auch an der Burgmauer lehnen, schlaff und in sich zusammengesunken. Orisian hatte sie nirgends im Hof gesehen; es konnte dennoch sein, dass er sich unter den Toten befunden hatte.
Sie sehnte sich nach Inurians Gesellschaft, aber der Ratgeber ihres Vaters ritt irgendwo hinter ihr in der Kolonne. Orisian hatte dem Na’kyrim immer nähergestanden als sie. Irgendwie hatte ihr Wissen, dass Inurian vielleicht als Einziger auf der Welt in ihr Herz schauen und die dort verborgenen Schmerzen und Ängste freilegen konnte, für eine gewisse Distanz zu ihm gesorgt. Dennoch war er stets freundlich zu ihr gewesen, und jetzt hatte sie von allen Menschen, die ihr im Leben etwas bedeutet hatten, nur noch ihn.
Am Nachmittag nahm man Anyara und Inurian die Fesseln ab und ließ sie endlich gemeinsam ausruhen, während die Pferde an einem Bach getränkt wurden. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Immer noch unterdrückte sie die Tränen, obwohl ihr die Nähe zu ihm die Kehle zuschnürte. Inurian hörte auf damit, sein rechtes Knie abzutasten und zu massieren, und legte ihr einen Arm um die Schultern.
»Du musst noch eine Weile stark bleiben«, sagte er.
»Ja, ich weiß, ich weiß.«
»Dann hast du Idrin bemerkt?«
Anyara lächelte ihn an. Das war besser, als über all die anderen Sorgen und Befürchtungen zu sprechen, die ihr durch den Kopf spukten.
»Ist sie uns die ganze Zeit gefolgt?«
»O ja. Sie war schon immer ungemein stur.
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