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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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schloss.
    Als er sie wieder öffnete, beugte sich ein Gesicht über ihn – dämmergraue Augen, die ihn musterten; zarte Haut, so nahe, dass er sie mit den Lippen berühren konnte; warmer Atem, der seine Wangen und seine Stirn streifte. Er befand sich nicht mehr im Freien. Über ihm wölbte sich eine Kuppel aus Tierhäuten. Irgendwo weit weg glaubte er eine Stimme zu hören, die laut seinen Namen rief. Nach einer Weile verstummte sie. Er wurde flach auf den Boden gelagert und verlor erneut das Bewusstsein.
    Er kam zu sich und wusste zunächst nicht, wo er war. Blinzelnd wandte er sich dem schwachen Licht entgegen. Die winzige Kopfbewegung löste einen heftigen Schmerz in seiner Seite aus. Er schnitt eine Grimasse und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Der Schmerz ging in ein dumpfes Pochen über. Eine Zeit lang wagte er sich nicht zu rühren. Langsam kehrten seine Erinnerungen zurück, aber sie hatten etwas Unwirkliches an sich, und er vermochte Wahrheit und Traum oder Albtraum nicht zu unterscheiden.
    Wenn er den Blick nach oben richtete, sah er ein sonderbares Zeltdach – einen Rahmen aus Holzpfählen, über den eine breite Bahn aus Tierhäuten gespannt war. Jemand hatte Felle darübergebreitet; ihr herber Geruch stieg ihm in die Nase. Abermals versuchte er den Kopf in Richtung des Lichts zu drehen, das von irgendwo zu seiner Linken hereinsickerte. Obwohl er diesmal vorbereitet war, konnte er ein Stöhnen nicht unterdrücken, als ihn der Schmerz durchzuckte. Er hob eine bleischwere Hand und legte sie auf die pochende Stelle. Da war eine Art Verband, der seine Haut warm und feucht umhüllte. Ein Hustenanfall schickte Feuer durch seine Brust und flirrende Lichtblitze durch die Augenlider. Schwindel erfasste ihn.
    Dann war jemand bei ihm im Zelt, legte ihm eine kühle Hand auf die Stirn und schlug die Felle zurück, um einen Blick auf seine Flanke zu werfen. Er schaute in ein Gesicht, das er aus seinen Träumen kannte – ein schönes, blasses Gesicht, eingerahmt von weißblondem Haar. Klare graue Augen musterten ihn. Die Hand glitt von seiner Stirn, und er sah kurz spinnenartige Finger mit langen weißen Nägeln. Die schmalen Lippen bewegten sich.
    »Stillhalten«, sagte eine Stimme, die Orisians Ohren umschwebte wie eine Sommerbrise.
    Kyrinin, flüsterte ihm der winzige Teil seines Verstands zu, auf den er zugreifen konnte. Der Gedanke driftete weiter, ohne sich festzusetzen.
    »Schlafen«, hörte er sie sagen, und er schloss die Augen.

    Fariel war da, an einem Ort zwischen Wachen und Schlafen. Sein toter Bruder stand gebückt im Zelteingang und strich sich mit einer Hand die langen Haare aus den Augen. Er war inzwischen ein stattlicher, um nicht zu sagen schöner junger Mann.
    »Komm mit mir«, sagte er, und Orisian erhob sich und folgte seinem Bruder in den Abend hinaus.
    Die tief am Himmel stehende Sonne tauchte den Wald in Licht. Die Bäume warfen scharf abgegrenzte Schatten über das Gras. Schmetterlinge flatterten aus der Helligkeit ins Dunkel und wieder zurück in die Helligkeit. Der Bruder streckte ihm eine Hand entgegen.
    »Gehen wir zum Meer hinunter«, sagte er, und Orisian nickte. Durch den lichten Wald wanderten sie auf die Wogen zu. Das Wasser leuchtete. Seite an Seite standen sie da und schauten nach Westen. Der untere Rand des Sonnenballs berührte den Horizont. Eine warme Brise wehte ihnen entgegen.
    »Das ist schön«, sagte Orisian, und Fariel lächelte.
    »Wunderschön.«
    »Du warst lange fort.«
    Der Bruder hob einen Stein auf und warf ihn weit, weit hinaus. Dann wischte er sich die Hand an der Jacke ab.
    »Nicht sehr lange und nicht sehr weit.«
    »Du hast recht«, erwiderte Orisian. »Ich hatte nie das Gefühl, dass du weit weg warst.«
    Sie schlenderten am Ufer entlang. Vögel zogen über ihnen hinweg. Ihre Rufe klangen fast menschlich. Sie verrieten Sorge und Trauer um etwas, das für immer verloren war.
    »Ich hätte gern, dass du zurückkommst«, sagte Orisian.
    »Das kann ich nicht, leider«, entgegnete Fariel, ohne seinen Bruder anzuschauen.
    »Bist du allein? Ist …« Orisian sprach den Satz nicht zu Ende.
    Fariel lachte leise. »Ja, sie ist bei mir. Genau wie Vater.«
    Unvermittelt blieb Orisian stehen. Er starrte Fariel nach, der einige Schritte weiterging, ehe er anhielt und sich umdrehte. Orisian spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Möwen kreischten in den Lüften. Die Sonne nahm ein fiebriges Rot an.
    »Vater?«, wiederholte er. Dunkle Umrisse tanzten am Rand seines

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