Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Sichtfelds. Sie schienen ihn zu verhöhnen.
Fariel deutete aufs Meer hinaus, und dort, unmöglich nahe, erhob sich Burg Kolglas, ein ausgebranntes Skelett, aus dessen zerbrochenen Fenstern immer noch Rauch aufstieg. Ein Teil des Mauerwerks war eingestürzt, und die zersplitterten Tore lagen wie Treibgut am Saum des Wassers. Noch während Orisian hinüberstarrte, löste sich ein großer Steinblock aus der Brustwehr und versank spritzend in den Wogen. Er streckte die Arme aus, als könne er die zerstörte Festung umfangen. Ihm war schwindlig. Aus der Tiefe seiner Gedanken stieg ein Bild seines Vaters auf. Blut rann ihm aus dem Mundwinkel, und das Heft eines großen Messers ragte ihm aus der Brust. Orisian würgte.
»Das hattest du vergessen«, sagte Fariel.
Orisian senkte den Kopf. »Was hätte ich denn tun sollen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sein Bruder. »Niemand weiß es. Du wirst in Zukunft deine eigenen Entscheidungen treffen müssen.«
Orisian schaute auf. Fariel schüttelte traurig den Kopf. Er schien sich zu entfernen, über dem Wasser zu schweben. Orisian konnte seine Züge nicht mehr erkennen.
»Warte!«, rief Orisian. »Geh nicht weg!«
Fariel sagte etwas, aber Orisian vermochte ihn kaum noch zu hören.
»Wo ist Anyara?«, schrie er.
Sein Bruder verschmolz mit dem leuchtenden Halbkreis der untergehenden Sonne.
»Lass mich nicht allein!«, bat Orisian.
Er spürte, wie er nach hinten kippte, dem Boden entgegen. Er fiel in etwas Weiches und versank darin.
»Lass mich nicht allein«, flüsterte er noch einmal, und dann war alles dunkel.
Als er erwachte, spürte er im Gesicht den Hauch einer Berührung. Er schaute auf und merkte, dass sich die junge Kyrinin-Frau über ihn beugte. Sie roch nach Wald und Wärme. Ihre feinen weichen Haare streiften seine Wange. Lautlos bewegte er die Lippen.
»Keine Sorge«, sagte sie in ihrer wundersamen Stimme, während sie sich aufrichtete. »Das Schlimmste ist vorbei.«
»Das Schlimmste«, wiederholte er.
»Du hast den Tod gesehen und bist zurückgekehrt.«
Wie um die Wahrheit ihrer Worte zu bestätigen, durchdrang der dumpf pochende Schmerz in der Seite seine Gedanken. Er versuchte die Felle wegzuschieben, die über ihn gebreitet waren. Sie hielt ihn davon ab, sanft, aber bestimmt. Ihre klaren Augen ließen ihn nicht los. Er sah keinerlei Trübung darin, keinen Fehler in dem ebenmäßigen Feld, das ihre winzigen Pupillen wie ein Ring aus poliertem Feuerstein umgab. Inurians Augen waren nicht so vollkommen gewesen. Sie hatten eine Spur von Menschsein enthalten. In diesem Augenblick strömte vieles auf Orisian ein, zu viel, als dass er alles gleichzeitig aufnehmen und ordnen konnte. In seiner Brust regte sich Panik, wie ein Vogel, der aus dem Schlaf erwacht.
»Wo ist Rothe?«, fragte er.
»Rothe?«
»Mein Leibwächter. Er war bei mir, als … er mich in das Boot brachte.«
»Der große Mann? Er ist hier. Er lebt.«
Sie musterte seine Gesichtszüge. Er fühlte sich unbehaglich unter der Berührung ihrer Blicke.
»Wo ist er?«, fragte er.
»Hier«, wiederholte sie.
»Ich will ihn sehen.«
Sie erhob sich. »Warte. Ich frage.«
Orisian strich sich mit einer Hand über den Magen. Er fühlte sich leer an, teils weil er Hunger hatte, teils wegen der bitteren Erinnerungen, die sich in sein Denken drängten. Eine dieser Erinnerungen nahm für kurze Zeit seine Aufmerksamkeit in Anspruch.
»Fariel«, raunte er.
Sie hatte den Zeltausgang fast erreicht. Nun wandte sie sich noch einmal um und warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Ich habe dich nicht verstanden«, sagte sie.
»Ich träumte von Fariel«, murmelte er.
»Deinem Bruder?«
Orisian wollte sie fragen, woher sie den Namen seines Bruders kannte, aber sie hatte das Zelt bereits verlassen, und der Streifen aus Tierhaut, der den Eingang verschloss, schwang zurück.
Rothe kam, und Orisian musste das Erstaunen verbergen, das in ihm aufstieg. Sein Leibwächter sah verändert aus. Seine hünenhafte Gestalt wirkte irgendwie geschrumpft, das Gesicht war schmaler, und die Augen blickten sorgenvoll drein, ehe sein Blick auf Orisian fiel und zu strahlen begann. Orisian erspähte einige hochgewachsene Gestalten hinter Rothe, die ihm jedoch nicht ins Innere des Zeltes folgten.
Rothe legte die breite Pranke auf Orisians Schulter.
»Wie schön, Euch zu sehen«, sagte der ältere Mann leise. »Ich befürchtete schon …«
Mühsam versuchte sich Orisian aufzurichten, aber Rothe drückte ihn auf das Lager
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