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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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Diener durch einen Wink zu verstehen, dass er das kaum berührte Essen wieder mitnehmen solle. Dann schenkte er sich Wein ein. Seine Hände zitterten so stark, dass er einige Tropfen verschüttete.
    »Immer noch keine Nachricht von Roaric«, murmelte er. »Ich glaube, wir haben seit … zwei Wochen nichts mehr von ihm gehört.«
    »Seit drei Wochen«, warf Ilessa leise ein.
    »Wir können nicht untätig herumsitzen und warten, auch wenn der Steward das am liebsten sähe«, meinte Gerain. »Das hast du ihm selbst klarzumachen versucht, Vater. Lannis ist das einzige Haus, dem wir uns in enger Freundschaft verbunden fühlen.«
    »Glaubst du, ich wüsste das nicht?« Ärger schwang in der Stimme des Thans mit, aber gleich darauf schien er seinen Ausbruch zu bedauern und hob die Hand zu einer versöhnlichen Geste. »In welchen Zeiten leben wir nur? Muss ich wirklich meine beiden Söhne der tödlichen Gefahr aussetzen? Ihr werdet begreifen, dass mir das schwerfällt.«
    »Sie sind die Söhne ihres Vaters«, warf Ilessa ein. »Deshalb fühlen sie sich zum Handeln verpflichtet. In Gerains Alter wärst du als Erster losgeritten.«
    Der Than erwiderte ihr sanftes Lächeln. Lheanor und Ilessa hatten jung geheiratet, fast zu jung, um zu begreifen, worauf sie sich einließen, aber keiner von ihnen hatte die Entscheidung je bereut. Sie waren Seite an Seite alt geworden, ein Paar, dessen Liebe unerschütterlich schien.
    »Ich weiß«, sagte Lheanor. Als Titelerbe hatte er mitunter hitzig reagiert. Er war keinem Kampf ausgewichen und hatte mindestens die gleiche Leidenschaft an den Tag gelegt wie Gerain. Wenn er nun im gesetzten Alter zurückblickte, konnte er nicht mehr sagen, wann genau die Vorsicht – oder gar so etwas wie Angst – begonnen hatte, sein jugendliches Ungestüm zu unterhöhlen. Vielleicht war es der Augenblick gewesen, als er die Thanschaft übernommen hatte.
    »Ich suche die Zwietracht nicht, aber wenn sie auf uns zukommt, sollten wir uns nicht abwenden«, erklärte Gerain. »Vielleicht benötigt Croesan unsere Unterstützung nicht. Vielleicht kann ich nicht mehr tun als ihm unser Beileid zu Kennets Tod ausdrücken. Aber wenn er unsere Hilfe – unsere Speere – braucht, dann wäre es eine Schande zu warten, bis Gryvan oc Haig uns die Erlaubnis zum Eingreifen erteilt.«
    »Jeder hier im Land – mit Ausnahme von Gryvans Stellvertreter Lagair – würde dir beipflichten. Das ändert nichts an der Tatsache, dass Gryvan der Than der Thane ist. Wir müssen mit Bedacht vorgehen, das ist alles. Ich übernehme den Hoch-Than und seinen Steward; du führst deine Männer nach Kolglas und siehst dort nach dem Rechten. Ich möchte das nächste Winterfest gemeinsam mit meinen beiden Söhnen feiern.«
    V
    Orisian kämpfte sich aus der Ohnmacht, als erwache er aus einem zähen Schlaf. Er wurde auf einer Art Bahre durch den Wald getragen. Ihm kam verschwommen in den Sinn, sich zu bewegen, aber sein Körper reagierte nicht. Sein Sichtfeld schwankte im Rhythmus von Schritten auf und ab. Birkenstämme mit ihren helldunklen Rindenstreifen zogen einer nach dem anderen an ihm vorbei. Er sah einen Teppich aus hartem Gras, tiefgrünem Moos und totem Laub. Flüchtig erblickte er im Augenwinkel hochgewachsene, bleiche Gestalten, die sich geräuschlos bewegten. Alles war wie in einem Traum. Er spürte einen dumpf pochenden Schmerz in der Seite. Er konnte sich nicht vorstellen, woher er kam, aber er steigerte sich und durchbohrte ihn wie mit einem glühenden Messer. Orisian glitt zurück ins Dunkel.
    Später schlug er die Augen auf, konnte aber die Benommenheit, die ihn gefangen hielt, immer noch nicht abschütteln. Stimmen hatten ihn geweckt. Er sah und hörte, ohne zu verstehen. Er vernahm Laute wie das Keckern von Eichhörnchen, das Krächzen von Krähen oder das Rascheln von Blättern im Wind. Er wurde an seltsamen Kugelzelten vorbeigetragen. Er sah eine Frau mit zartem, stillem Gesicht gebückt in einem Eingang stehen. Sie versuchte ihm etwas mitzuteilen, aber er verstand sie nicht. Eine Tierhaut wurde über einen Holzrahmen gespannt. Holzrauch stieg ihm in die Nase. Kinder hüpften umher. Ein aus Ästen und Zweigen geflochtenes Riesengesicht schielte ihn an wie eine Sinnestäuschung oder ein Albtraumwesen. Er sah einen tief in das Erdreich gerammten Pfahl, an dem Tierschädel übereinander befestigt waren. Sie starrten ihn aus leeren Augenhöhlen so traurig an, dass seine Lider zu flattern begannen und er selbst die Augen

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