Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
überfallen, nicht eingenommen. Die gesamte Krieger-Inkall zählt, soweit wir wissen, höchstens einige tausend Kämpfer, die bestimmt nicht die Absicht haben, ohne Verstärkung bis nach Kolkyre zu marschieren. Nein, das Ganze scheint mir ein frevelhafter Übermut zu sein. Ein paar Inkallim ist es irgendwie gelungen, sich an Kolglas heranzuschleichen, den Bruder des Thans zu töten und sich wieder nach Kan Dredar zurückzuziehen – oder wo immer sie sonst leben. Gleichzeitig haben sie es geschafft, die Waldelfen aus ihren Löchern zu scheuchen, was mich ehrlich gestanden erstaunt, aber kaum als großes Unheil zu betrachten ist.«
Gerain verbarg seine Gefühle gut, aber Lheanor beobachtete, dass sein Sohn jeden Augenblick die Beherrschung zu verlieren drohte. Der Titelerbe war im Allgemeinen besonnen – viel besonnener jedenfalls als sein Bruder Roaric –, neigte aber zu Zornausbrüchen zum falschen Zeitpunkt. Nicht nur deshalb hielt er es für ratsam, die Diskussion zu beenden.
»Nun, wir werden in Kürze die ganze Wahrheit erfahren«, erklärte Lheanor ruhig.
Der Steward schaute auf und bedachte den Than mit einem leeren Lächeln.
»Ich habe unsere besten Kundschafter ausgesandt und erwarte ihre Berichte in einem oder zwei Tagen«, fuhr Lheanor fort.
»Ganz recht, Herr.« Lagair nickte. »Wenige Tage Geduld kosten uns nicht allzu viel.«
»Es besteht ein Unterschied zwischen Geduld und Untätigkeit«, stellte Lheanor fest. »Auch wenn die Lage ein wenig unsicher erscheint, habe ich das Recht, alles zu unternehmen, um die Grenzen meines Landes zu schützen und Sorge für die Sicherheit des Hauses Lannis zu tragen. Ihr könnt nicht erwarten, dass ich die Hände in den Schoß lege, während ein anderes der Wahren Geschlechter in Schwierigkeiten welcher Art auch immer steckt.«
Lagair blickte zweifelnd drein, aber er schwieg.
»Ich bin gern bereit, die Meinung des Hoch-Thans in dieser Angelegenheit zu hören – gewiss habt Ihr bereits eine ausführliche Stellungnahme nach Varmouth entsandt –, aber bis zu ihrem Eintreffen werde ich so handeln, wie es mir vernünftig und ratsam erscheint. Ich kann Euch versichern«, fuhr Lheanor mit wohl überlegter Deutlichkeit fort, »dass ich nicht so weit gehen werde, meine gesamte Streitmacht ins Tal des Glas zu entsenden. Ihr habt deutlich gemacht, dass Ihr – und damit Gryvan oc Haig – einen solchen Schritt missbilligen würdet. Da es aber ohnehin Unsinn wäre, so etwas zu tun, verspreche ich gern, es zu unterlassen.«
»Sehr gut«, entgegnete Lagair. Seiner Miene war zu entnehmen, dass er wenig Wert auf Lheanors Zusicherung legte.
»Das gilt bis zu dem Zeitpunkt, da wir Genaueres wissen«, setzte der Than von Kilkry hinzu »Sollten es dann die Umstände erfordern, werde ich meine Streitmacht allerdings so einsetzen, wie ich es für richtig halte. Schließlich ist es meine Streitmacht – zumindest der Rest, den mir der Hoch-Than ließ.«
Nachdem der Steward gegangen war, nahmen Lheanor, sein Sohn und seine Gemahlin Ilessa ein gemeinsames Mahl in ihren Gemächern ein. Ihre gedämpfte Stimmung steckte die Diener an, die schweigend das Essen auftrugen und sich danach sofort wieder zurückzogen.
Es herrschte seit langem eine enge Freundschaft zwischen den Herrscherhäusern von Kilkry und Lannis. Kennet nan Lannis-Haig war vor dem Ausbruch des Herzfiebers ein häufiger und gern gesehener Gast in Kolkyre gewesen. Lheanor hatte ihm zwar nie so nahegestanden wie seinem Bruder Croesan, ihn jedoch stets für einen tüchtigen, zuverlässigen Mann gehalten. Lagair Haldyn und der Hoch-Than, dem der Steward diente, verstünden das nicht, aber bei Lheanor und seiner Familie löste Kennets Tod tiefe Trauer aus – umso mehr, wenn er tatsächlich durch die verhassten Stämme vom Schwarzen Pfad umgekommen war.
Gerain stocherte lustlos in seinem Essen herum.
»Lässt du mich gehen?«, fragte er.
Ilessa schaute von ihrem Gedeck auf, aber der Blick ihres älteren Sohns war auf Lheanor gerichtet. Erst schien es so, als habe der Than die Frage nicht gehört. Er widmete sich mit gefurchter Stirn dem Fleisch auf seinem Teller.
»Wie viele Mann willst du mitnehmen?«, fragte der Than schließlich.
»Nicht mehr als zwei- bis dreihundert«, erwiderte Gerain rasch. Seine Stimme klang eifrig, obwohl er sich Mühe gab, gelassen zu bleiben. »Meine eigenen Leute. Keine Grenzwachen und keine Schutztruppen von den Burgen. Nur meine eigene Kompanie.«
Lheanor seufzte und gab einem der
Weitere Kostenlose Bücher