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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Ruckley
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bekam nichts außer einem dünnen Haferbrei, in dem einige unappetitliche Graubrotstücke schwammen. Die Männer oder Frauen, die ihr das Essen brachten, sprachen kein Wort mit ihr. Sie standen da und beobachteten sie, während sie den Napf auslöffelte. Anyara spürte ihre Verachtung und mitunter fast so etwas wie Hass. Sie war die Nichte des Thans, von Eindringlingen in ihrer eigenen Heimat gefangen gehalten. Sie hatte das Recht, Hass zu empfinden, nicht ihre Bewacher. Doch ihr Zorn kochte nur einmal über. Sie warf den Napf einem der Wächter vor die Füße und schleuderte ihm Flüche entgegen. Er besah sich die Breispritzer auf seinen Stiefeln und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Sie schrie auf und versuchte vergeblich, das Blut zu stillen, das ihr aus der Nase quoll. Er versetzte ihr einen zweiten Hieb, diesmal gegen die Schläfe. Sie fiel zu Boden. Dann nahm er den leeren Napf, warf die Zellentür hinter sich zu und ließ den Riegel krachend einrasten. Seitdem hielt Anyara ihre Gefühle besser in Zaum.
    In den Nächten sehnte sie den Schlaf als eine Art Flucht herbei, aber er stellte sich nur widerwillig ein. Sie lag auf der verschlissenen Matratze, die man ihr gegeben hatte, eingerollt wie ein Wurm in den steinernen Eingeweiden einer Riesenbestie, die sie verschluckt hatte. Der Schwarze Pfad geisterte durch ihre Müdigkeit. Ein trostloser Glaube, fand sie. Allein der Gedanke, dass der gesamte Lebensweg vom Augenblick der Geburt bis zur Stunde des Todes vorausbestimmt sein sollte, war ihr widerwärtig. Aber ihre gegenwärtige Ohnmacht schien ein bitteres Echo dieser Lehre zu sein. Vergeblich hatte sie im Lauf der vergangenen fünf Jahre neue Kraft aufgebaut. Andere waren zu dem Schluss gelangt, dass sie grausam sterben sollte, und sie konnte nicht das Geringste dagegen tun.
    Sie erinnerte sich, dass sie vor langer Zeit – in einer Welt, die ihr nun so schwer fassbar erschien wie ein flüchtiger Traum – in der Großen Halle von Kolglas auf den Knien ihres Vaters den Geschichten über vergangene Schlachten gelauscht hatte. Kennet hatte in jungen Jahren an der Seite seines Vaters und Bruders in Tanwrye gegen die Krieger des Schwarzen Pfads gekämpft. In seiner leisen Stimme, die dicht an ihrem Ohr wisperte, schwang zögernde Bewunderung für den Feind mit. Eine Abteilung Inkallim hatte tatenlos mit angesehen, wie ein Horin-Gyre-Heer vor den Stadtmauern von Tanwrye eingekreist und vernichtet worden war. Manche behaupteten, dies sei geschehen, um den Hochmut des Hauses zu dämpfen. Andere meinten, der Hoch-Than von Gyre habe den Vorstoß untersagt und Horin-Gyre auf diese Weise für seinen Ungehorsam bestraft. Aber, so raunte Kennet, die Umzingelten hätten keine Spur von Furcht gezeigt und Stunde um Stunde weitergekämpft, bis alle niedergemetzelt waren.
    Lairis hatte Kennet getadelt, dass er einem kleinen Mädchen solche Geschichten während des Essens erzählte, doch er hatte seiner geliebten Gemahlin ungewohnt scharf widersprochen. »Sie muss ihren Feind genau kennen«, hatte er erklärt.
    Anyara kannte den Feind, auch wenn ihr das wenig nutzte, sie kannte ihn und wusste, wie erbarmungslos und unauslöschlich sein Hass war.

    Durch das hohe, schmale Fenster ihrer Zelle sah sie lediglich ein Stück wolkenverhangenen Himmel, der wenig Aufmunterung bot. Manchmal hörte sie Regentropfen gegen das Dach prasseln und dachte, dass selbst ein kurzer Spaziergang durch die Nässe ein Trost für sie gewesen wäre. Die Stunden zogen sich endlos hin. Über die Jahre hinweg hatte sie eine starke Abwehr gegen ihre Ängste und Schmerzen entwickelt, gegen das Fieber, den Tod, das Leiden ihres Vaters. Nun wurde diese Abwehr auf eine harte Probe gestellt.
    Die meisten Wärter hatten einen schweren Tritt, den sie vernahm, lange bevor sie die Zellentür erreichten. Als sie daher nach drei oder vier Tagen des Eingesperrtseins leichtere Schritte näher kommen hörte, hob sich ihre Laune bei dem bloßen Gedanken an eine Abwechslung in der bedrückenden Eintönigkeit. Aber ihre Freude verflog rasch, als die Besucherin eintrat. Es war Wain, die Schwester des Titelerben aus dem Haus Horin-Gyre. Ihr langes Haar war etwas matter und ihre Kleidung etwas mehr mit Schlamm und Ruß verschmiert, aber ihr Blick war nicht weniger hart und nicht weniger verächtlich als das letzte Mal, da Anyara sie gesehen hatte.
    Sie musterte die Gefangene mit einem spöttischen Lächeln, und Anyara widerstand dem Impuls, ihr Haar und Gewand glatt zu

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