Wir Ertrunkenen
Aber sie gehörten zur Welt der Lebenden. Er gehörte in die der Toten.
Eines Tages saß Albert in der Kirche und sammelte sich. Er hatte eine neue Todesbotschaft zu überbringen, denn Pastor Abildgaard war wieder einmal ausgefallen. Als Kapitän hatte er bisweilen eine traurige Nachricht übermitteln müssen. Da kannte er die Toten und konnte ausführlich über sie reden, er musste nie in Allgemeinplätzen sprechen. Und obwohl er als Kapitän Distanz zur Mannschaft hielt, war er doch Menschenkenner genug, um in jeden Einzelnen von ihnen hineinzusehen und ihnen die rechten Worte mit auf den Weg zu geben, wenn ein Unglück geschehen war. Er wusste, dass das Wort eines Kapitäns viel bedeutete, mehr als das eines Geistlichen. Sicher, der Pastor war näher bei Gott, aber nicht näher an Leben und Tod und der Grenze dazwischen, und darum ging es. Es waren die Worte des Kapitäns, die auf den unsichtbaren Grabsteinen standen, die in der Erinnerung errichtet wurden; und was die Begräbnisse betraf, so war der Pastor in einer Stadt, die von Seeleuten bewohnt wurde, ohnehin immer unterbeschäftigt. Die Seeleute blieben auf See.
Diejenigen, die nun starben, kannte er nicht sonderlich gut, ein bisschen wusste er allerdings immer über sie, denn Marstal war eine kleine Stadt. War es ein junger Mann, dessen Leben der Krieg gefordert hatte, dann kannte er den Vater und konnte sich vieles ausmalen. War es ein älterer Mann, dann kannte er ihn ohnehin, vielleicht hatte er sogar zu seinen eigenen Leute gehört, als er noch zur See fuhr. Inmitten der Leere, die sich bei der Mitteilung eines Todesfalls auftat, bot Albert Nähe und Halt und stand in gewisser Weise dem Tod im Weg. Statt des Todes stand er in der Tür und bewahrte die Hinterbliebenen vor der panischen
Angst. Ihre Klagen verstummten, und sie begannen früher mit der notwendigen Zeit der Trauer, in der sie wieder gesunden konnten.
Ein wenig wusste er ja. In seinen Träumen hatte er oft genug die letzten Augenblicke der Toten erlebt. Er hatte sie mitten in den schäumenden Wellen aufgeben sehen. Er hatte gesehen, wie sie von Kugeln zerfetzt wurden. Er hatte gesehen, wie sie nach Tagen in einem offenen Rettungsboot auf dem winterkalten Meer leblos und mit Erfrierungen im Gesicht über der Ruderbank hingen. Doch das durfte er nicht verraten. Und dennoch sprach er mit einer sonderbaren Sicherheit über die letzten Augenblicke der Toten. Er log, wie nur jemand lügen kann, der die Wahrheit kennt. Er log das Entsetzen und die Schmerzen fort, nicht aber den Tod. Er sprach nicht vom Jenseits, denn er war nicht Pastor Abildgaard, und daher glaubten sie ihm. Er war alt, er hatte immer in der Stadt gelebt, breitschultrig und mit gestutztem Bart. Hier in der Nähe des Todes galt seine Autorität noch immer. Er war der Kapitän. Er saß in ihren Stuben, in die er sonst vermutlich nie gekommen wäre, und sein Besuch gab dem Tod eine Bedeutung, die er sonst wohl nicht gehabt hätte. Er half ihnen, sich gegen das Dunkle zu wehren; sie fühlten sich nicht allein in diesem Augenblick. Und doch saß nicht nur er bei ihnen. Es war die ganze Stadt, die Einigkeit, die Familie, die Vergangenheit und die Zukunft. Der Tod war bereits halb besiegt, das Leben ging schon wieder weiter.
Niemand wollte etwas von Jesus hören, wenn Kapitän Madsen da war. Niemand fragte ihn, wo die Toten sich jetzt befanden und ob es ihnen dort gutging. Denn seine Botschaft war ganz schlicht: So ist es einfach. Er lehrte uns diese große, allumfassende Akzeptanz. Er ließ die Umstände des Lebens direkt zu uns sprechen. Das Meer nimmt uns, aber es hat uns nichts zu erzählen, wenn es sich über unseren Köpfen schließt und die Lungen füllt. Es war vielleicht ein merkwürdiger Trost, aber in seinen Worten spürte man dennoch so etwas wie einen festen Grund, denn so war es immer gewesen, das hatten wir gemeinsam.
Albert erkannte, dass es Hinterbliebene gab, die die Krise nicht ohne den Erlöser bewältigten, sie überließ er Carl Rasmussens Witwe. Er sah ihren Glauben nicht als Zeichen der Schwäche. Er wusste, dass die Menschen viele Arten von Auswegen brauchen. Er selbst hatte keinen. Er wurde von Träumen heimgesucht. Er war einsam und sein Glaube an
die Einigkeit zerbrochen. Er hielt sich aufrecht, wenn er die Räume des Todes verließ. In seinem Inneren jedoch war er zusammengesunken.
Er wusste nicht, was er brauchte. Also saß er in der Kirche und sammelte sich. Er sah vor allem auf seine Hände. Hin und
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