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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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zugebracht zu haben, von dem Menschen und Vermögen geschluckt und dann wieder ausgespuckt wurden. «Das neue Amerika» nannte er es.
    «Man braucht nicht bis nach Amerika zu fahren, um reich zu werden. Du brauchst nur am Pier von Kopenhagen anzulegen. Sogar die Milchjungen spekulieren an der Börse. An einem Tag Milchjunge, am nächsten Millionär.»
    Er sprach mit uns, als könnten wir weder lesen noch rechnen und
wären ein Haufen nacktarschiger Neger direkt aus dem Kral. Und er war der Missionar, der uns über das gelobte Land aufklären wollte. Seine Stimme triefte vor nachsichtiger Überlegenheit, die weder zu ihm passte noch uns sonderliches Vergnügen bereitete. Der Steuermann der Ludvig, Thorkild Folmer, schob die Unterlippe vor und gab sich trotzig.
    «Die Dienstmädchen in Marstal haben auch Schiffsanteile», sagte er, um zu zeigen, dass wir durchaus mithalten konnten.
    Herman lachte.
    «Ha, ha! Ja, ein Hundertstel. Ein Hundertstel wovon? Was kann denn so ein jämmerlicher Äppelkahn in einer Saison einfahren? Wer kann davon Millionär werden? Ja, ein geiziger Marstaler vielleicht, wenn er zweihundert Jahre alt wird und bis dahin nichts isst oder trinkt.»
    Unablässig strömten neue Worte aus seinem Mund. Marge, sagte er, hausse, baisse, lauter Zauberformeln für den, der die Bedeutung dieser Worte verstand, für uns allerdings reiner, unverständlicher Unfug. Er nannte die Namen seiner Freunde an der Börse, weitblickende Ehrenmänner, ja Wegbereiter des Landes – der Negerklatscher, der Rollende Fußweg, der Zahnzieher, der Rote Jude, die Weiche –, unkonventionelle, impulsive Typen, wie man an ihren Spitznamen erkennen konnte, die sie sich selbst gegeben hatten. Sie nahmen sich eines jeden an, wenn er nur die rechte Denkart besaß und sich wünschte, möglichst schnell reich zu werden. Ob er nun Leichtmatrose war oder Schiffsjunge.
    «Ich habe ihnen bloß von meinem Erbe erzählt, da haben sie mir Geld geliehen. Nur wegen meines ehrlichen Gesichts. Mir – einem Schiffsjungen.»
    Seine Miene verfinsterte sich einen Augenblick, und er blickte in Webers Café in die Runde.
    «Nicht wie gewisse andere.»
    Er erinnerte sich durchaus, dass ihn niemand anheuern wollte, weder als Leichtmatrosen noch als Schiffsjungen. Aber an der Börse hatten sie ihn nicht abgewiesen. Den vornehmen Kopenhagener Geldleuten war er gut genug. Sie nahmen ihn in ihren Kreis auf. Wir hatten ihn verstoßen. Aber nun war er zurückgekehrt.
    «Ihr werdet schon sehen», erklärte er zum wiederholten Mal und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

    «Zum Teufel, ihr werdet schon sehen.»
    Er trank einen Schluck Bier und spuckte ihn auf den Boden.
    «Bier – ha! In Kopenhagen trinkt niemand dieses Gesöff. Dort trinken wir Champagner zum Frühstück!»
    Es herrschte Gedränge in Webers Café. Herman war eine Attraktion. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, und wir starrten auf den Löwen an seinem rechten Arm: «Smart and Poverfull» . Vielleicht war er ein Mörder oder auch nur ein Narr. Vielleicht war aber auch alles, was er erzählte, wahr, und dann waren wir ein Haufen Narren, und er war wirklich smart und poverfull. Uns ging es nicht so wie den Jungen, die ihn in den Straßen verfolgten und über jemanden lachten, vor dem sie insgeheim Angst hatten.
    Niemand von uns Erwachsenen lachte über Herman. Stattdessen fürchteten wir, lächerlich zu wirken. Wir nickten und bemühten uns, den Eindruck zu erwecken, als würden wir ihn verstehen, während wir unseren Abscheu verbargen. Champagner zum Frühstück! Pfui Teufel! In den offenen Patios der Bordelle von Buenos Aires mit ihren Palmen, Springbrunnen und unanständigen Bildern an den Wänden wurde Champagner serviert. Es war die Brause der leichten Mädchen. Kein Mann trank das freiwillig, nur wenn ihm die Hose zu eng wurde. Es war das notwendige Schmiermittel, um eine señorita geneigt zu machen. «You nice. Please buy vun small bottle champagne.» Champagner war ein Teil des Tarifs.
    Wir sahen die Perlen, die unablässig vom Boden der schlanken Gläser aufstiegen. Sie glichen der letzten Luft, die den Lungen eines Ertrinkenden entweicht.
    Wir hätten auf den Boden spucken mögen. Aber wir taten es nicht. Wir tranken unser Bier aus, es schmeckte merkwürdig brav und fad.
    Herman hielt Hof.

    Auf der Dampskibsbro stand eine Gruppe Männer und unterhielt sich im lauen Sommerabend. Wasser und Himmel waren das reinste Pastell, hellblau und rosa, und das Meer lag so still, dass

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