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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Kaffee zu kochen, den jeder Fremde zu trinken hatte, der zu Besuch kam, egal, welch schlechte Neuigkeiten er brachte. Er ging in die gute Stube und setzte sich. Der Kachelofen strahlte keine Wärme aus. Das Zimmer wurde alltags nicht benutzt und war daher nicht geheizt, aber er wusste, dass sie ihm hier den Kaffee servieren wollte. Aus der Küche hörte er das Klappern der Kaffeekanne, das Geräusch eines Streichholzes, das angerissen wurde, dann das Sausen der Gasflamme. Hansigne Koch gab keinen Laut von sich. Wenn sie weinte, tat sie es lautlos.
    Sie kam mit den Kaffeetassen herein. Es war englische Fayence, wahrscheinlich hatte es ihr Mann mitgebracht, oder sie hatte es geerbt. Dann begann sie, den Kachelofen anzufeuern. Er bot ihr nicht an zu helfen und schlug auch nicht vor, das Heizen zu lassen oder den Kaffee in einem der warmen Räume des Hauses zu trinken. Es war die tägliche Routine, die in diesem Moment zu Hansigne Kochs Rettungsplanke wurde. Dadurch würde sie auch weiterhin überleben. Der Kaffee bedeutete ein Ritual, so wichtig wie das Begräbnis, das sie ihrem ertrunkenen Sohn nie würde bieten können.
    Sie setzte sich ihm gegenüber und schenkte den Kaffee ein. Er erklärte die Umstände des vermuteten Untergangs. Viel gab es ja nicht zu sagen. «Ausgeblieben», also Liverpool nie angelaufen. Es war wichtig, dass sie aus den unklaren Umständen des Verschwindens der Ruth keine Hoffnung schöpfte. Sonst würde sie ihren Verlust nie überwinden. Vielleicht tat sie es ohnehin nicht. Aber Hoffnung würde die Zeit nur anhalten, so dass ihre heilende Wirkung nicht einsetzen konnte. Das wusste er.
    Er erwähnte den Krieg nicht.
    «Glauben Sie, dass es ein U-Boot war?», fragte sie.
    Er schüttelte den Kopf. «Das weiß niemand, Frau Koch.»
    «Ich bekam vor zwei Tagen einen Brief von ihm, abgeschickt aus St. John’s. Er schrieb, es hätten sich so viele abgesetzt. Die Ægir könne nicht einmal auslaufen. Von der Besatzung wäre kein Mann mehr da. Auch von der Nathalia und der Bonavista verschwänden sie. Und die hätten
an Bord sogar Schwarzbrot bekommen. Auf der Ruth gäbe es nur Zwieback. ‹Hätte ich nur die Brotrinden, die Großvaters Hühner bekommen.› Das schrieb er mir. Oh, ich habe mir immer Sorgen gemacht, ob er auch etwas Ordentliches zu essen kriegt.»
    Sie weinte noch immer nicht.
    «Eine Mutter hat niemals Ruhe», sagte sie. «Manchmal denke ich, dass ich erst aufhöre, mir Sorgen zu machen, wenn ich tot bin. Ich habe vom ersten Tag an, als er zur See ging, Angst gehabt.»
    Sie schwieg.
    «Warum muss es so sein? Ständig mit dieser Angst zu leben? Aber ein U-Boot ist das Schlimmste.»
    Albert nahm ihre Hand. Es war ein U-Boot. Er hatte es selbst gesehen. Die Besatzung wurde erschossen, noch bevor sie in die Boote kam, danach war das Schiff in Brand gesteckt worden. Er hatte gesehen, wie Peter dabei war, das Rettungsboot klarzumachen. Eine Kugel hatte ihm die Brust aufgerissen, er fiel aufs Deck. Dann enterte die Mannschaft des U-Boots das Schiff und übergoss es mit Petroleum. Das Rigg und die Segel brannten schnell lichterloh. Die Ruth, die sich innerhalb eines Augenblicks in einen Scheiterhaufen für die Besatzung verwandelt hatte, verschwand mit einem Brodeln in den Wellen.
    Dies war der schwerste Moment für ihn. Er musste sich beherrschen, damit seine Hand, die nun ihre hielt, nicht zu zittern begann, so wie ihre in seiner zitterte. Er war einsam. Seine Einsamkeit bedeutete indes nichts gegen ihre, sie hatte einen Mann und zwei Söhne verloren.
    Sie sah ihn direkt an. Noch immer weinte sie nicht. Es war wie eine schreckliche Geduldsprobe, der sie sich selbst unterzog.
    «Kapitän Madsen, ich fühle nichts.»
    Ihre Stimme klang ungläubig, wie bei einem Unfallopfer, das von der Hüfte abwärts gelähmt ist und plötzlich bemerkt, dass es seine Beine nicht mehr bewegen kann.
    «Ich wusste es», sagte sie vor sich hin.
    «Was wussten Sie, Frau Koch?» Er sprach mit sanfter Stimme.
    «Als Eigil ertrank, wusste ich, dass ich nie wieder weinen würde. Um ihn habe ich mir nie Sorgen gemacht. Was kann einem Kind schon passieren, das draußen beim Spielen ist? Und dann ertrank er im Hafen. Oh, Kapitän Madsen, mein Herz stand still an diesem Tag. Ich glaube,
ich zählte die Sekunden, und von meinem Herzen kam keinerlei Antwort, nicht ein Schlag, nicht ein Stoß, überhaupt nichts. Es war vollkommen still in meiner Brust. Peter war zu Hause. Er nahm mich in die Arme und hielt mich an sich

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