Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
gedrückt, so wie ich es mit ihm vor so vielen Jahren getan hatte, als er ein kleines Kind war. ‹Mutter, ich bin so froh, dass ich dich noch habe›, sagte er, und obwohl er mir die Sorgen nicht abnehmen konnte, begann mein Herz doch wieder zu schlagen. Er schrieb mir nie einen Brief, ohne mich zu bitten, Eigil auf dem Friedhof zu grüßen.»
    Noch immer flossen keine Tränen.
    «Und nun ist er fort», sagte sie. Die Worte kamen stoßweise. «Nun gibt es niemanden mehr, von dem ich Eigil grüßen kann.»
    Sie senkte den Kopf. Tränen tropften auf Alberts Hand.
    Es verging einige Zeit. Albert schwieg.
    «Ja, ich habe also doch noch Tränen», sagte sie schließlich.
    Er konnte die Erleichterung in ihrer Stimme hören. Die lange Prüfung war vorbei. Sie konnte wieder etwas empfinden.
    «Und Sie haben auch noch etwas anderes», erwiderte Albert. «Sie dürfen nicht vergessen, dass es jemanden gibt, der sie braucht.»
    Frau Koch schaute ihn einen Moment verwirrt an. Dann richtete sie sich mit einem Ruck auf, als hätte sie gerade jemand gerufen. Dann stieß sie einen Mädchennamen aus.
    «Ida!»
    Lorentz hatte Albert über die Familienverhältnisse informiert. Ida war Frau Kochs mittleres Kind, ein elfjähriges Mädchen, das sich an diesem Vormittag in der Schule in der Vestergade befand.
    «Ida», wiederholte Frau Koch und stand mit einer geschäftigen Bewegung auf. «Ich muss Ida abholen.»
    Sie hatte bereits den Mantel an und stand abmarschbereit im Flur. Albert begleitete sie die Vinkelstræde hinauf bis zur Lærkegade. Er bot ihr an, bis zur Schule mitzukommen, doch sie lehnte es ab.
    «Sie haben vorhin etwas Richtiges gesagt, Kapitän Madsen.»
    Sie gab ihm zum Abschied die Hand.
    «Es gibt immer jemanden, der uns braucht. Manchmal vergessen wir das. Aber vielleicht hält uns ja gerade das am Leben.»
    Albert bog in die Nygade und schauderte in dem Schneegestöber, das
ihm direkt ins Gesicht wehte. War er selbst nützlich? Gab es jemanden, der ihn brauchte?
    Er stapfte irritiert durch den Matsch und wischte sich über das nasse Gesicht.

    Auch die Witwe des Marinemalers kam in die Kirche. Sie saß allein in einer Bank und starrte auf Jesus und die aufgewühlten Wellen. Wahrscheinlich dachte sie an den Erlöser, an ihre Kinder, die sie nacheinander verloren hatte, bis nur noch eines übrig war, vielleicht aber auch an ihren verstorbenen Mann. Wer wusste das schon. Albert hatte die Kirche betreten und sah sie dort sitzen, sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Leise war er wieder hinausgegangen, er wollte nicht stören. Er achtete auf die Uhrzeit. Vielleicht hatte sie regelmäßige Gewohnheiten. Er kam von nun an ein wenig früher. Blieb er lange genug sitzen, erschien sie jedes Mal. Sie ging nicht wieder, setzte sich ein Stück von ihm entfernt in die Bank und gab sich ihrer eigenen stillen Andacht hin. Er hörte ihr Kleid rascheln und das Scharren der Schuhe. Nach einer Weile erhob er sich. Sie blickte auf, und er grüßte mit einem kurzen Nicken auf dem Weg nach draußen. Danach kam er jeden Tag zum gleichen Zeitpunkt. Sie tauchte ebenfalls auf. Zwei alte Menschen, die still in einer Kirche saßen, jeder auf seiner Seite.
    Nein, Albert war kein Mensch, der wusste, wo er Trost suchen sollte. Er wusste, wie er sich bei anderen nützlich machen konnte. Manchmal sind diese beiden Dinge eins. Doch über seine Qualen konnte er mit keinem Menschen reden, und da er an keinerlei Gott glaubte, bedeutete das, dass es überhaupt keine Möglichkeit gab, darüber zu sprechen. Aber er ging jeden Tag in die Kirche, eine halbe Stunde bevor Anna Egidia Rasmussen erschien, und er blieb dort sitzen, als würde er auf sie warten.
    Er kam nicht in das Haus Gottes, um Gott zu finden. Vielleicht kam er, um einen Menschen zu finden?
     
    Eines Tages setzte sie sich neben ihn. Es war ihm nicht klar, ob er darauf gewartet hatte. Er blickte von seinen Händen auf und grüßte sie.

    «Nun sitzen Sie schon wieder hier, Kapitän Madsen», sagte sie.
    Er nickte und wusste nicht, wie er diese Tätigkeit fortsetzen sollte. Eben war die Hydra als vermisst gemeldet worden, und er hatte eine Todesbotschaft zu überbringen. Der Witwe von Kapitän Eli Johannes Rasch. Auch Anna Egidia Rasmussen hatte eine Aufgabe.
    «Hat dieser furchtbare Krieg denn niemals ein Ende?», seufzte sie, während sie sich wie gewöhnlich in die Betrachtung der Altartafel ihres verstorbenen Mannes vertiefte.
    «Er nimmt kein Ende.»
    Albert spürte plötzlich, wie sich Zorn

Weitere Kostenlose Bücher